Italien und die deutsche Einheit Den Dieselmotor der Demokratie genießen
Es ist ein Spiel mit Vorurteilen zwischen Italien und Deutschland. 1990 schienen die liebgewordenen Klischees in Gefahr, denn Deutschland wurde bedrohlich groß. Doch bei vielen Italienern ist sie wieder da: die Freude am Sound der Demokratie, die einfach funktioniert.
Von Tilmann Kleinjung, ARD-Hörfunkstudio Rom
Italien und Deutschland. Italien und die Wiedervereinigung. Am Anfang war da ein großes Misstrauen - so wie in fast allen europäischen Staaten. Der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti sagte 1990: "Der großdeutsche Traum muss überwunden werden. Es gibt zwei deutsche Staaten und zwei deutsche Staaten sollen bestehen bleiben."
Bis 1990 waren Italien und die alte Bundesrepublik gleichauf. Nahezu gleich groß, was die Bevölkerung betrifft. Das gleiche historische Erbe: Diktatur, Befreiung, Nato, Europäische Gemeinschaft. Und seit den 50er-Jahren zogen scharenweise Italiener nach Norden, um zu arbeiten, und Deutsche nach Süden, um Urlaub zu machen.
Die gegenseitigen Klischees wurden mehr oder weniger liebevoll gepflegt. Man hatte sich in der Beziehung eingerichtet, man hatte sich daran gewöhnt, dass es da im Norden zweimal "Germania" gibt - "Ovest" und "Est".
Das "Ende einer hässlichen Teilung"
"Ich war in Deutschland als Student seit den 70er-Jahren, dann als Journalist auch in der DDR und in Berlin. Ich habe mich über die Wiedervereinigung nur gefreut", sagt Beppe Severgnini. "Für mich war das das Ende einer hässlichen, nutzlosen und unlogischen Teilung. Aber Vorsicht: Ich bin in den 50er Jahren geboren, in einem friedlichen Europa. Wer in den 20er-Jahren geboren ist, hat das Trauma des Krieges erlitten und da ist doch etwas Angst nur zu verständlich."
Severgnini ist Kolumnist des Mailänder "Corriere della Sera". Der Kolumnist in Italien, und auch in Deutschland ist Severgnini kein ganz Unbekannter: "Überleben in Italien … ohne verheiratet, überfahren oder verhaftet zu werden", heißt sein ins Deutsche übersetzter Ratgeber für sein Heimatland.
Essen, trinken, sich vergnügen
Das wiedervereinigte Deutschland macht ihm keine Angst. "Was mir am wiedervereinigten Deutschland besonders gut gefällt, das habe ich jetzt entdeckt: Ein Land, das gelernt hat zu leben, zu essen, zu trinken, sich zu vergnügen, sich im Freien aufzuhalten. Das ist genau die notwendige Flexibilität, ohne die eigene Ideale zu verraten." Die deutschen Ideale? "Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit, Pünktlichkeit."
Letzte Woche hat der "Corriere della Sera" eine Europakarte abgedruckt. Wie sehen wir uns gegenseitig? Die Deutschen denken bei Italien zuerst an Pizza, die Italiener bei Deutschen an "orologiodipendenti". Zu Deutsch: Uhrenabhängige.
"Das Exotischste, was wir uns vorstellen können"
Severgnini hat gerade im Auftrag der deutschen Goethe-Instituts eine Reise von Berlin nach Palermo unternommen, gemeinsam mit einem deutschen Kollegen. "Bei unserer Reise von Berlin nach Palermo - wer war immer pünktlich am Zug? Mein Kollege kam immer zu spät. Vor uns beiden war er der chaotische, schlecht organisierte, ich bin der Deutsche - kein Zweifel."
Der Journalist liebt das Spiel mit den Vorurteilen, mit den Klischees und den vermeintlichen und tatsächlichen Unterschieden. "Ich glaube, dass alle Nationen das jeweils Andere schätzen. In einem Land der Blonden sind es die Braunhaarigen und umgekehrt. Und da Italien ein eher individualistisches und etwas anarchisches Land ist, gefällt es den Italienern vor allem, in Deutschland den Sound einer Demokratie zu hören, die wirklich funktioniert." Das sei für Italiener ein fast schon erotisches Schauspiel, diesen Dieselmotor einer Gesellschaft zu hören, der einfach funktioniere. "Das ist das Außergewöhnlichste und Exotischste, was wir uns vorstellen können."
Womit wieder ein Klischee bedient wäre: das von den Italienern, die trotz allem Berlusconi wählen. Und das von Italien, einem Land das irgendwo zwischen Chaos und Überbürokratisierung steckengeblieben ist. Und im Gegensatz zu Deutschland immer noch geteilt ist: in einen reichen Norden und einen armen Süden: "Ich wünsche mir", sagt Severgnini, "dass wir Italiener das mit dem Süden schaffen, was ihr Deutschen mit dem Osten geschafft habt. Ich war in den 90-ern oft in Deutschland und da hieß es immer: 'Wir schaffen das nicht', und ich war mir sicher: Ihr schafft das. Und diesmal hatte der Italiener Recht."