Russland und die Wiedervereinigung Mit einer Lovestory fing es an
"Deutschland, wir reichen Dir die Hand und kehr’n zurück ins Vaterland ...". Dieser Vers aus dem Abzugslied der sowjetischen Soldaten aus der DDR war wegweisend. Noch heute ist die Stimmung in Russland gegenüber den Deutschen und der Wiedervereinigung positiv. Die Liebe der Deutschen galt vor allem einem.
Von Robert Baag, ARD-Hörfunkstudio Moskau
"Gorbi, Gorbi ... " - So hat am Ende der 80er-Jahre einmal eine Lovestory der besonderen Art begonnen: enthusiastische "Gorbi, Gorbi"-Rufe begeisterter Bundesbürger vor dem Rathaus der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Der so Gefeierte, Michail Gorbatschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und mächtigster Politiker der östlichen Supermacht UdSSR, genoss auf dem Rathaus-Balkon die herzliche Zuneigung der Deutschen, die ihm und seiner Ehefrau Raissa so lautstark entgegenschallte. Dieser Gorbatschow würde ihnen nach fast einem halben Jahrhundert der Teilung die Wiedervereinigung ermöglichen.
Nur den Schlusspunkt in diesem historischen Prozess, den setzt ein anderer. Den setzte sein Nachfolger Boris Jelzin, als er Ende August 1994 vertragsgemäß die letzten russischen Soldaten aus Deutschland abzogen: "Deutschland, wir reichen Dir die Hand und kehr’n zurück ins Vaterland ... Proschtschaj Germania - lebe wohl, Deutschland", schmettert damals die im exakten Marschtritt abrückende "Berlin-Brigade" auf Russisch und auf Deutsch. Freundschaft und Vertrauen solle künftig zwischen beiden Ländern die gemeinsame Basis sein, beschwören die Soldaten die gemeinsame Zukunft.
Keine platte Propaganda, meint im Rückblick Aleksandr Tschepurenko, Soziologie-Dekan an der Moskauer Hochschule für Ökonomie: "Damals herrschte in Russland eine sehr hohe Erwartung an ein einiges Europa. Nach dem großen Schulterschluss mit Deutschland wurde das Zusammenwachsen von dem, was eigentlich zusammengehört, eher wohlwollend angesehen."
Putin: "Deutschland war lange Zeit Geisel"
Der heutige russische Ministerpräsident Wladimir Putin erinnerte sich 2009 aus Anlass des jüngsten Mauerfall im russischen Fernsehsen NTW: "Deutschland und das deutsche Volk waren lange Zeit Geiseln im Kampf zweier Supermächte, der östliche genauso wie der westliche Teil." Als Putin Ende der 80er-Jahre als Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Dresden war, sei ihm klar gewesen, dass die Teilung eines Volkes keine Perspektive gehabt habe. "Das hätte man von Anfang an nicht tun sollen!"
Schon 1990, aber manchmal auch heute, waren noch vereinzelte kritische Stimmen zu hören, dass Deutschland, die alte Bundesrepublik, damals im Wortsinn "zu billig" davongekommen sei. Fünfzehn Milliarden D-Mark, das sei doch ein Schnäppchenpreis für die wiedergewonnene Einhei gewesen, räsonierte noch vor kurzem Ex-General Matwej Burlakov, der letzte Oberbefehlshaber der einstmals in der DDR stationierten Sowjettruppen: "Es waren sogar nur zwölf Milliarden. Noch ein paar zehn Milliarden hätte man denen damals herausleiern sollen..."
"Hinterher ist man immer klüger!" lautet Putins Antwort auf die Frage, ob er anders als Gorbatschow gehandelt hätte: "Was ich anders gemacht hätte, werde ich nicht sagen. Es ist geschehen, was geschehen musste. Das größte Plus dieses ganzen Prozesses damals: Eine neue Qualität in unseren Beziehungen mit Deutschland hat sich entwickelt, ein Gefühl des Vertrauens und der Dankbarkeit."
Ärger über fehlende Dankbarkeit
Dankbarkeit erwarteten die Russen aber auch von den Deutschen "nachdem sie durch die Rote Armee vom Hitler-Regime befreit wurden", schränkt Soziologe Tschepurenko die positive Grundeinstellung der Russen gegenüber Deutschland und den Deutschen. Berichte über Vergewaltigungen und Raubtaten von Rotarmisten stießen dagegen auf starken Widerwillen. Andererseits würden viele Russen verständnisvoll reagieren, wenn ehemalige Bürger der Deutschen Demokratischen Republik über den Stasi-Staat und die Bevormundung in der DDR berichten: "Ja, uns ging es auch so!"