Historischer Streit Wem gehört Tibet?
In dem Konflikt zwischen Tibet und China berufen sich beide Seiten auf die Geschichte. China sieht das Land als historischen und untrennbaren Teil seines Staatsgebiets. Die Tibeter behaupten, immer eigenständig gewesen zu sein. Wer von beiden hat nun Recht? Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie verzwickt das Verhältnis zwischen Tibet und China war und ist.
Von Nina Ritter für tagesschau.de
Nach Niedergang eines tibetischen Großreiches aus dem 7. Jahrhundert geriet Tibet immer wieder unter Einfluss chinesischer Herrscher, verwaltete seine inneren Angelegenheiten jedoch stets weitestgehend selbst. Tibets Verhältnis zu den chinesischen Kaisern bestand seit der Mongolen-Dynastie im 13. Jahrhundert in einer so genannten Gönner-Priester-Beziehung. Das heißt, tibetische Mönchsherrscher unterwiesen den Kaiserhof im Buddhismus, dafür standen sie unter seinem Schutz.
Manchu-Dynastie erhebt Ansprüche
Erst die Manchu versuchten im 18. Jahrhundert stärker, politischen Einfluss auf Tibet zu nehmen. Der Kaiser stationierte Soldaten, um zu verhindern, dass sich das Land mit Chinas damaligen Feinden, den Dzungaren, verbündete. Ebenso schickte er Gesandte nach Lhasa. Welchen Einfluss diese tatsächlich hatten, ist unklar. Heute ist eben dieses unklare Machtverhältnis die Wurzel des Streits: China sagt, sie seien Statthalter des Kaisers gewesen und begründet damit seine Sicht, Tibet habe mindestens seit damals zu China gehört. Die Tibeter weisen dies mit dem Argument zurück, die Gesandten hätten keine Macht über politische Entscheidungen gehabt. Als Provinz des Kaiserreiches galt Tibet damals offiziell zumindest nicht. Die Tibeter hatten jedoch auch kein Interesse daran, sich offiziell von China loszusagen, denn das hätte die chinesischen Herrscher provoziert, ihre Vormachtstellung in Tibet einzufordern. Mit dem Niedergang des Manchu-Reiches schwand schließlich Chinas Einfluss in Tibet. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Oberherrschaft, die es beanspruchte, nur noch symbolisch. Die Tibeter verwalteten sich selbst. Der Kaiser hatte kaum mehr Einfluss.
Die Rolle der Briten
Erst die Briten beendeten den politischen Schwebezustand zwischen Tibet und China. Sie wollten Handel mit Tibet treiben und schickten 1903 eine Expedition dorthin. Als die Tibeter dies verweigerten, nahmen sie Lhasa ein Jahr später militärisch ein und zwangen die Tibeter zu einem Handelsabkommen. Die Chinesen sahen sich gezwungen zu reagieren, damit Tibet nicht unter britische Hoheit geriet. Sie sandten Truppen und Beamte nach Tibet. Um ihre wichtigen Wirtschaftsverbindungen zu China nicht zu gefährden, bescheinigten die Briten China die Oberhoheit über Tibet. Im Gegenzug erkannten die Chinesen das Handelsabkommen an.
De facto Unabhängigkeit seit 1911
Nach dem Sturz des letzten Manchu-Kaisers 1911 erklärte sich Tibet unabhängig. Die chinesischen Nationalisten, die die Macht in Peking übernommen hatten, erhoben zwar weiterhin Anspruch auf das Gebiet, hatten jedoch keine Beamten und keine Soldaten mehr dort. Tibet verwaltete alle inneren und äußeren Angelegenheiten bis 1951 selbst und war damit de facto unabhängig. Anerkannt wurde dies jedoch von keiner der anderen Mächte, weil niemand China verärgern wollte. Eine internationale Kommission von Juristen, untersuchte den Fall 1959 nach der Flucht des Dalai Lama. Sie bestätigte, die Unabhängigkeit Tibets, bevor die chinesischen Kommunisten das Land 1951 einnahmen.
Und wo hört Tibet eigentlich auf?
Zusätzlich kompliziert wird der Konflikt durch die Frage, wo die Grenzen Tibets verlaufen. Hieran scheiterten bereits mehrmals Verhandlungen zwischen beiden Seiten. Anfangs waren die Chinesen bereit gewesen, Tibet den autonomen Status zu gewähren, den der Dalai Lama heute fordert. Dies sollte allerdings nur für die heutige Provinz Tibet gelten. Die Tibeter forderten hingegen, die Autonomie auch auf die tibetischen Siedlungsgebiete in den angrenzenden Provinzen auszudehnen, wo mehr als die Hälfte aller Tibeter leben. Dort können sie jedoch kaum einen historischen Anspruch geltend machen. Seit mehreren Jahrhunderten hatten die Herrscher in Lhasa dort so gut wie keinen Einfluss mehr – China allerdings genau so wenig.