Reportage über das Leben in der Todeszone Vom ganz normalen Wahnsinn in Aleppo
Zerschossene Häuserwände, Trümmer, Tote - seit knapp einem Jahr wird im syrischen Aleppo gekämpft. Jeden Tag. Und jeden Tag versuchen die Übriggebliebenen, ihren Alltag zu meistern. Die Menschen hetzen durch die Straßen - aus Angst vor den nächsten Schüssen, die sie treffen könnten oder vor den barbarischen Taten, zu denen sowohl die Rebellen als auch die Truppen des Regimes fähig sein.
Von Martin Durm, SWR
"Da unten, da holen wir sie immer raus", sagen die Männer und führen uns durch kniehohes Gras hinunter zum Fluss. Das Wasser ist braun, schlammig, unterhalb einer Brücke haben sie engmaschige Metallsperren eingelassen. Wenn der Kuwaik, der Fluss, der mitten durch Aleppo hindurchfließt, Hochwasser führt, schwemmt er an dieser Stelle Leichen an.
Oben im Nordwesten, den das Regime kontrolliert, hat man sie ins Wasser geworfen. Dann treiben sie hinunter in die südöstlichen Stadtviertelviertel zu den Rebellen. "Ich hab schon mehr als zehn Tote aus dem Wasser geholt", sagt Amr, "einer von ihnen war mein Cousin. Er hat versucht, rüberzukommen, dabei haben sie ihn erwischt. Was für eine Schande ist das? Hier werden einfach so Menschen ermordet und ins Wasser geworfen. Wir haben diese Sperren hingemacht, damit sie nicht weitertreiben. Manchmal sind sie nackt, dann bedecken wir sie."
Barbarische Taten auf beiden Seiten
Es heißt, man gewöhne sich mit der Zeit an den Kriegszustand. In Aleppo bekämpfen sich Aufständische und Regime-Truppen nun bald ein Jahr. Aber an das, was sie sich gegenseitig antun, kann man sich nicht gewöhnen.
Auch die Rebellen, vor allem der islamistischen Milizen, exekutieren Gefangene, terrorisieren unschuldige Zivilisten, brüsten sich mit barbarischen Taten: Vor einer Woche enthaupteten sie einen regimetreuen Geistlichen und spießten den Kopf auf das Minarett einer Moschee.
Des Einen Sieg ist des Anderen Tod
Es gibt etwas, das Rebellen und Regime auf eine perverse Art miteinander verbindet: Die Gewissheit, dass der Sieg des jeweils anderen unweigerlich den eigenen Tod mit sich brächte. An diesen Punkt ist der Aufstand gekommen. Das macht die Stadt so grausam und so und gefährlich. Manchmal schießen sie, um zu feiern, manchmal um zu töten - so genau weiß man das nie.
Wir sind im Auto unterwegs zum einzigen Übergang, der die verfeindeten Stadtteile miteinander verbindet: die Scheich-Ress-Brücke im Zentrum Aleppos. Täglich versuchen hier ein paar Hundert Syrer, vom einen Teil der gespaltenen Stadt in den andern zu kommen - zu ihrem Geschäft, ihren Eltern oder Freunden.
Es ist ein gehetzter Menschenauflauf, ein Durcheinander von Zivilisten, Straßenhändlern, Rebellen mit alten russischen Maschinengewehren. Ein junger Mann sagt: "Seit zwei Tagen schlagen hier immer wieder mal Raketen ein." Der Saftverkäufer, der neben ihm steht und mit Blechnäpfen Kundschaft herbei klappern will, meint: "Wozu Angst haben? Ich hab keine Angst. Nur Gott weiß, wann ich sterben muss."
Freie Meinung, aber nicht befreit
Nicht sehr weit entfernt feuern die Rebellen ins Regierungsviertel hinüber. Eine Bettlerin schlurft vorbei und bittet um milde Gaben. Und dann, plötzlich, 200 Meter von diesem Gedränge entfernt: die Antwort der Regierungsarmee. Chaos bricht aus, wie ein Schwarm rennt die Menschenmenge in eine Seitenstraße hinein. Und zwei Minuten später strömt das Leben ist wieder zurück auf den Platz.
"Jeden Tag, jeden Morgen das Gleiche", sagt ein junger Mann, der seine Frau an sich drückt. Der Saftverkäufer fängt wieder zu klappern an. Und wir fragen uns, wo wir hier eigentlich stehen und wie man das nennen soll: befreites Gebiet? Nein. Es ist von islamistisch dominierten Rebellen kontrolliertes Gebiet. Frei nur insofern, als dass die Leute auf der Straße im Unterschied zu früher nun offen aussprechen, was sie empfinden und denken. Unter Präsident Baschar al Assad hätte das niemand gewagt.
"Wir sind am Ende, Syrien ist zerstört"
In einem Hausflur, der etwas Schutz bietet, treffen wir eine Englischlehrerin, die seit Kriegsbeginn kein Englisch mehr unterrichten kann in Aleppo: "Am Anfang glaubte ich noch an die Revolution. Aber jetzt? Wir sind so verzweifelt, ich kann es Dir eigentlich gar nicht erklären. An was soll ich noch glauben? Wir sind am Ende. Syrien ist zerstört. Mein Haus ist zerstört. Ich bekomme kein Gehalt mehr. Mein Mann ist verschwunden. Ich habe zwei Babys. Was soll ich sagen?"
Befreite reden anders über ihr Leben als diese Frau im von Rebellen kontrollierten Osten Aleppos. Wir wären auch hinüber auf die andere Seite gegangen, in den Westteil, wo es ebenfalls zerschossene Hauswände gibt - dort allerdings mit Assad-Porträts, die daran kleben. Auch dort schlagen täglich Granaten ein, auch dort sterben Kinder. Aber es ging nicht.
Das Regime verweigert seit Monaten Einreisevisa für westliche Journalisten. Auf eine gewisse Weise haben wir die andere Seite dann doch noch kennengelernt - einen Tag später, als uns ein Scharfschütze der Regierungstruppen beschoss und meinen Freund, den ARD-Korrespondenten Jörg Armbruster, schwer verletzte. Im Grunde war es kein besonderes Vorkommnis. Es war an einem ganz normalen Tag in Aleppo.