Nach dem Attentat von Ankara Wut und Trauer in einem gespaltenen Land
Die Trauerfeiern nach dem Anschlag in Ankara haben sich zu Protestzügen gegen den türkischen Präsidenten Erdogan gewandelt. Viele Demonstranten erhoben schwere Vorwürfe gegen die regierende AKP.
Tausende Menschen hatten sich bereits am Morgen im Zentrum der türkischen Hauptstadt Ankara versammelt, um der Opfer des Anschlags zu gedenken. Direkt bis zum Anschlagsort vor dem Hauptbahnhof durften sie nicht ziehen. Der Platz ist noch von der Polizei abgesperrt.
Der ruhige Trauermarsch wurde schnell zu einem lauten Protestzug. Die Demonstranten bezichtigten die Regierungspartei AKP und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, hinter diesem Anschlag zu stecken. "Mörder, Erdogan", riefen Hunderte in Sprechchören. Die Polizei griff nicht ein.
Schwere Vorwürfe gegen Erdogan
Die Demonstranten warfen Erdogan vor, er wolle Unfrieden stiften und die kurdische Opposition schwächen, damit er sich selbst vor seinem Volk als Garant für Stabilität und Ruhe darstellen könne, damit seine islamisch-konservative Partei AKP bei den Wahlen in drei Wochen ihre alte Macht zurückgewinnen könne. Ein schwerer Vorwurf gegen den Staatspräsidenten. Aber: Bei dieser Trauerkundgebung waren die meisten Teilnehmer davon überzeugt, dass es so war - dass die eigene Regierung mit den Tätern unter einer Decke steckt.
Selahattin Demirtas, einer der beiden Chefs der prokurdischen Oppositionspartei HDP, sieht das ebenso. Er sagt: Der Anschlag gestern sei ein Angriff des Staates gegen das eigene Volk gewesen. Bei der Trauerkundgebung in Ankara nannte Demirtas neue Opferzahlen. "Wir haben bis jetzt leider 128 unserer Kameraden verloren", sagt er. "Tausende Schwestern und Brüder wurden verwundet. Wir trauern mit den Familien. Hunderttausende sollen mit ihnen trauern!" Die türkische Regierung hingegen spricht von 97 Todesopfern.
Die prokurdische Partei HDP hatte die Friedensdemonstration, auf die der Anschlag verübt wurde, mit organisiert. Sie sieht sich als Hauptopfer dieses Anschlags. In den vergangenen Wochen wurden in vielen türkischen Städten Brandanschläge auf Parteibüros der HDP verübt. Zwei Tage vor der vorangegangenen Wahl in der Türkei Anfang Juni hatten bislang unbekannte Täter einen Bombenanschlag auf eine HDP-Wahlversammlung in Diyarbakir im Südosten der Türkei verübt. Im Juli bei dem Bombenanschlag in Suruc starben 33 prokurdische Aktivisten.
Wut auf die eigene Regierung
Eine junge Frau, die diesmal in Ankara demonstrierte, brachte die Gefühle der Protestierenden auf den Punkt: "Wir sind in großem Schmerz und voller Wut. Wir ziehen es vor, unsere Wut zu zeigen. Bei uns hat sich so viel Wut aufgestaut. Wut, die sich gegen die eigene Regierung richtet", sagte sie.
Ein Teilnehmer der Trauerkundgebung sagte ganz offen: "Gestern haben wir uns hier zu einer Friedensdemonstration getroffen; sie haben uns weggebombt. Jeder weiß genau, wer die Täter sind: Die Regierungspartei AKP hat das Land in den Bürgerkrieg geführt, um an der Macht zu bleiben. Die Regierungspartei AKP schreckt nicht davor zurück, dieses Land ins Feuer zu stürzen."
Harte Worte und heftige Vorwürfe, die die türkische Regierung ebenso heftig zurückweist. Die Regierungspartei AKP dreht den Spieß um und verdächtigt unter anderem die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK, hinter diesem Anschlag zu stecken. So zeigt das Bombenattentat einmal mehr, wie unversöhnlich die türkische Gesellschaft in zwei Lager gespalten ist.