Umstrittene Entscheidung des türkischen Parlaments Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben
Das türkische Parlament hat die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben. Betroffen sind alle Parteien. Besonders hart trifft die Entscheidung jedoch die regierungskritische HDP. International wird der von Präsident Erdogan initiierte Schritt als "Selbstentmachtung" des Parlaments kritisiert.
Das türkische Parlament hat die umstrittene Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten beschlossen. Damit kann gegen sie ermittelt werden. Das Parlament stimmte mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für den Schritt: 376 der 550 Abgeordneten unterstützten den Vorstoß der regierenden islamisch-konservativen AKP.
Insgesamt betrifft die Entscheidung Mitglieder aller vier Fraktionen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 der betroffenen Parlamentarier zur AKP, 51 zur Mitte-Links-Partei CHP, 50 zur pro-kurdischen HDP und neun zur ultrarechten MHP. Außerdem soll der einzigen parteilosen Abgeordneten die Immunität entzogen werden.
Verfassungsänderung macht Schritt möglich
Die Aufhebung der Immunität geschieht über eine befristete Verfassungsänderung. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte dafür, einen Satz aus Artikel 83 für jene 138 Mitglieder der Nationalversammlung auszusetzen, denen Straftaten vorgeworfen werden.
Der Satz besagt: "Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet."
Erdogans Verfassungspläne
Hintergrund der Entscheidung ist nach Meinung von Kritikern eine vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsänderung, für die ihm bislang die nötigen Stimmen im Parlament fehlen. Mit der Aufhebung der Immunität könnte er die nötige parlamentarische Arithmetik erreichen, um seine Pläne umzusetzen. Denn laut Verfassung müssten die möglicherweise freiwerdenden Sitze durch eine Nachwahl neu besetzt werden.
Aufgrund der derzeitigen Stimmung im Land werden vor allem der HDP nur geringe Chancen auf eine Wiederholung des Wahlerfolgs vom vergangenen Jahr eingeräumt. Das könnte dazu führen, dass die AKP genügend Parlamentssitze bekäme, um eine Verfassungsänderung im Alleingang auf den Weg zu bringen. Derzeit hat die regierungskritische HDP 59 Mandate.
SPD-Kritik an Entscheidung
Die SPD kritisierte die Entscheidung des türkischen Parlaments: "Der demokratische Pluralismus in der Türkei nimmt damit nachhaltigen Schaden. Es geht dabei ausschließlich um den Erhalt und Ausbau der Macht von Präsident Erdogan und der AKP", sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley.
Die Immunitätsaufhebung treffe zahlreiche Abgeordnete der kurdischen Partei HDP. Eine weitere Eskalation im Konflikt mit der kurdischen Minderheit sei zu befürchten. "Europa darf zu diesen Entwicklungen nicht schweigen, auch wenn wir mit der Türkei an anderer Stelle zusammenarbeiten. Das ist eine Frage von Haltung und Glaubwürdigkeit."
Zuvor hatte der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich vor einer "Selbstentmachtung" des Parlaments gewarnt. Dadurch werde "ein weiterer Baustein einer demokratischen Entwicklung in der Türkei entfernt".