Nach der Wahl in der Türkei Erdogans Plan B - Neuwahlen?
Die Wahl - eine Watsche für Erdogan und seine Partei AKP. Koalitionsgespräche werden schwierig, sagt die Journalistin Ayca Tolun gegenüber tagesschau.de. Sie vermutet, Erdogans Plan B sind Neuwahlen. Dann könnte er doch das Präsidialsystem einführen.
tagesschau.de: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat hoch gepokert - und sein Ziel verfehlt. Ist das Ergebnis eine Ohrfeige für Erdogan?
Ayca Tolun: Diese Wahl ist eine Watsche direkt für Erdogan, aber auch für seine Partei. Er hat seiner Partei nicht getraut und einen Parallelwahlkampf gemacht. Er ist Staatspräsident, führt sich aber wie ein Ministerpräsident auf. Mit jedem seiner Wahlkampfauftritte hat er die Verfassung gebrochen, weil er gegen das Neutralitätsgebot verstoßen hat. Im Wahlkampf ist er außerdem unter die Gürtellinie gegangen. Das ist bei den Wählern nicht gut angekommen.
Ayca Tolun ist Leiterin der Türkischen Redaktion bei der Hörfunkwelle Funkhaus Europa im WDR. Sie ist Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters. Sie ist geboren in Deutschland, aufgewachsen in der Türkei und zum Studium wieder nach Deutschland gekommen. Seitdem lebt sie hier.
Neuwahlen als Möglichkeit
tagesschau.de: Wie geht es nun weiter?
Tolun: Es wird für Erdogans Partei, die AKP, schwierig, eine Koalition zu bilden. Die Kurdenpartei HDP will keine Koalition mit der AKP. Die Republikanische Volkspartei (CHP), also die Sozialdemokraten, und die rechte Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) haben zunächst dasselbe gesagt, ihre Aussage dann aber etwas verändert: Wenn das Land in ein Chaos driften würde, wären beide Parteien koalitionsbereit. Seit 13 Jahren sind die Nationalisten und die Sozialdemokraten nun zum ersten Mal in einer Position, wo sie etwas bewirken könnten. Die Frage ist, wie sie damit umgehen werden. Die MHP und die AKP haben die meisten Berührungspunkte: Beide sind sehr konservativ und nationalistisch, aber sie sind über Jahre verfeindet. Deswegen wären Koalitionsgespräche sehr schwierig. Theoretisch hätten die drei Oppositionsparteien auch eine Mehrheit. Die Sozialdemokraten und die Kurden könnten zusammenkommen, aber die Nationalisten haben eine Zusammenarbeit mit der HDP abgelehnt. Aber das ist keine wahrscheinliche Option.
Zudem hat die Türkei schlechte Erfahrungen mit Koalitionen gemacht. Als die AKP an die Macht kam, war das Land gebeutelt von Koalitionen, die nur Stagnation und sehr viele Auseinandersetzungen gebracht haben. Deswegen ist der Diskussionspunkt im Moment: Neuwahlen - ja oder nein.
tagesschau.de: Welches Interesse hätten die AKP und Erdogan daran?
Tolun: Alle regierungsnahen Zeitungen haben heute ähnliche Schlagzeile, die sinngemäß lautet, dass der Wähler keinen klaren Auftrag erteilt habe. Deshalb gibt es nun den Wunsch nach Neuwahlen. Es wird auch kolportiert, dass das der Plan B Erdogans ist. Wenn innerhalb von 45 Tagen keine Regierung gebildet werden kann, dann ist der Staatspräsident gezwungen, vorgezogene Neuwahlen auszurufen. Die Regierungspartei könnte jetzt abwarten.
Erdogan doch noch als Sieger?
tagesschau.de: Könnte Erdogan dann doch noch als Sieger aus dieser Wahl hervorgehen?
Tolun: Die Rechnung geht so: Die Kurdenpartei HDP hat tatsächlich eine Menge Leihstimmen bekommen von Wählern, die Erdogan unbedingt bändigen wollten. Die Regierung und Erdogan selbst gehen davon aus, dass die HDP die Zehn-Prozent-Hürde nicht noch ein zweites Mal überspringen könnte. Dann würde ein Teil der AKP-Wähler, die dieses Mal die Partei nicht gewählt haben, reumütig zurückkommen. Denn sie haben Angst vor Chaos und wirtschaftlichem Einbruch. Die AKP hat es möglich gemacht, dass sie vom Wirtschaftsboom durch die Globalisierung profieren. Dann hätte man die Kurve bekommen - aus Sicht der AKP.
tagesschau.de: HDP-Parteichef Selahattin Demirtas sagte nach der Wahl, die Wähler hätten verhindert, dass die Türkei in eine Diktatur abrutscht und dem Präsidialsystem Erdogans eine Absage erteilt. Hat er damit Recht?
Tolun: Erstmal ja. In der Türkei gibt es nicht die Mehrheit, die sich Erdogan für die Einführung eines Präsidialsystems erhofft - das hat die Wahl gezeigt. Damit ist das Thema Präsidialsystem erst einmal vom Tisch, sofern es nicht zu Neuwahlen kommt und Erdogan und seine Regierung doch noch zum Zuge kommen, möglicherweise über ein Referendum. Ich schließe das nicht aus.
"Ein Traum und ein ideologisches Muss"
tagesschau.de: Sie gehen also davon aus, dass Erdogan an der Einführung des Präsidialsystems weiter festhält?
Tolun: Ja, es ist ein Traum von ihm und im Rahmen seiner Politik auch ein ideologisches Muss. Er ist nicht dafür bekannt, dass er jemals einen Schritt zurück gegangen wäre. Das ist auch eine Frage seines Charakters.
1,4 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland durften wählen. Die AKP hat in Deutschland besser abgeschnitten als in der Türkei selbst: 53,6 Prozent wählten die AKP. 17,5 Prozent wählten die HDP, knapp 16 Prozent stimmten für die CHP und 9,7 Prozent gab es für die nationalistische MHP.
tagesschau.de: Die Kurdenpartei hat sich klar gegen Erdogan ausgesprochen. Welche Rolle spielt die HDP?
Tolun: Wenn sich die Kurdenpartei HDP in der Politik behaupten kann, dann könnte sich in der Politik tatsächlich etwas verändern. Denn die Kurdenpartei ist nicht nur eine Kurdenpartei. Sie ist eine Mischung aus den deutschen Grünen und der Linkspartei. Sie hat sich auf die Fahne Themen wie Frauenquote, Frauenrechte und Umweltschutz geschrieben. Es ist eine Bürgerrechtspartei. Viele, die nie eine Kurdenpartei gewählt hätten, haben ihr Leihstimmen gegeben, um die Regierung zu bändigen. Schafft die Partei es, auf dieser Ebene zu bleiben, könnte sie eine Volkspartei werden.
tagesschau.de: Was bedeutet das Wahlergebnis für die Kritiker des Systems Erdogan?
Tolun: Es ist ein Hoffnungsschimmer. Für manche ist es der Anfang vom Ende der AKP. Andere wiederum hoffen, dass die AKP verstanden hat, was der Wählerwille ist und, dass die Partei und Erdogan maßvoller werden.
Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.