Interview

Chaos Computer Club zu Aktionen von WikiLeaks-Unterstützern "Attacken gegen Firmen-Websites sind destruktiv"

Stand: 13.12.2010 16:10 Uhr

Amazon von WikiLeaks-Unterstützern abgeschossen? Als die Seite des Online-Händlers nicht erreichbar war, schrillten bei Beobachtern gleich die Alarmglocken. Andreas Bogk vom Chaos Computer Club spricht im Interview mit tagesschau.de über Cyber-Attacken von erbosten WikiLeaks-Anhängern und die Zukunft der Enthüllungsplattform.

tagesschau.de: Gestern Abend waren die Websites von Amazon in mehreren europäischen Ländern zeitweise nicht erreichbar. Gleich wurde gemutmaßt, es handele sich um eine Cyber-Attacke, eine Vergeltungsaktion von Wikileaks-Anhängern. Wie wahrscheinlich wäre es denn überhaupt, durch solche Attacken einen der größten und bekanntesten Online-Händler weltweit lahmzulegen?

Bogk: Im Prinzip geht so etwas natürlich, wenn man über entsprechend viele Leute verfügt, die dabei mitmachen. Bei dem Ausfall am Wochenende handelt es sich aber sowohl laut Amazon als auch laut der "Anonymous"-Gruppe um einen technischen Ausfall und nicht um einen Angriff.

tagesschau.de: Zuvor hatte es aber tatsächlich unter anderem von "Anonymous" organisierte Angriffe auf Unternehmen wie MasterCard, Visa und den Internet-Bezahldienst PayPal gegeben. Sie hatten wie Amazon nach der Veröffentlichung geheimer US-Dokumente die Zusammenarbeit mit WikiLeaks eingestellt - mit der Begründung, dass WikiLeaks gegen ihre Geschäftsbedingungen verstoßen habe. In der Folge hatten WikiLeaks-Unterstützer automatische Massen-Abrufe der Internet-Seiten dieser Firmen organisiert, um sie lahmzulegen und so zu "bestrafen". Halten Sie das für gerechtfertigt?

Bogk: In keinster Weise. Solche Denial-of-Service-Attacken sind sehr destruktiv. Sie widersprechen auch dem Recht, etwas im Internet zu veröffentlichen und damit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Es ist verständlich, dass Menschen, die frustriert sind, zu einem solchen Mittel greifen, um sich Gehör zu verschaffen, wenn sie den Eindruck haben, dass das anders nicht möglich wäre. Das macht es aber nicht richtig.

"Von einem Hacker-Angriff zu sprechen wäre zu viel"

tagesschau.de: Die "Anonymous"-Attacken wurde mit relativ simplen Methoden ausgeführt. Jeder Internetnutzer konnte mitmachen.

Bogk: Man hätte auch den Leuten auch einfach sagen können: "Geht auf folgende Website und drückt, so oft ihr könnt, auf 'reload' in eurem Browser." Das zwingt bei ausreichend vielen Leuten eine Seite auch in die Knie. Von einem Hacker-Angriff zu sprechen, ist da eigentlich schon zu viel. Es war also eher mit einer Online-Demonstration zu vergleichen.

tagesschau.de: Zeigen diese Angriffe, wie verwundbar die industrialisierte Welt heute ist? Wären Cyberattacken auf Stromnetze und Gasversorgung genau so einfach?

Bogk: Es ist leider so, dass es mehrere Parteien gibt, die in der Lage sind, solche Angriffe durchzuführen. Die ganze Auseinandersetzung hat ja mit Denial-of-Service-Attacken gegen WikiLeaks begonnen, bei denen nicht so viele Menschen teilgenommen haben. In dem Fall hat es gereicht, dass die Angreifer über ausreichend Know-how und Geld verfügten. Es gibt sogenannte Bot-Netze, die größtenteils von Kriminellen betrieben werden, um Spam zu verbreiten, aber auch für Denial-of-Service-Attacken genutzt werden können. Und es wird gemutmaßt, dass es diverse Regierungen gibt, die über ähnliche Mittel verfügen.

Es ist aber nicht davon auszugehen, dass morgen jemand, der ausreichend verärgert ist, einfach das Strom- oder Wassernetz ausschaltet. Solche Infrastruktur ist anders als Webseiten im Moment nicht so anfällig für Denial-of-Service-Angriffe, und es ist zu hoffen, dass das auch in Zukunft so bleibt. Für einen Angreifer, der über entsprechende Ressourcen verfügt, sind aber auch solche Angriffe denkbar. Das können aber eigentlich nur Staaten sein. Der Trojaner "Stuxnet" in iranischen Industrieanlagen hat gezeigt, dass so etwas möglich ist - allerdings mit einem sehr viel höheren Aufwand als bei den Protesten jetzt.

Strategiewechsel der Unterstützer zeichnet sich ab

tagesschau.de: Inzwischen gab es auch in der realen Welt klassische Demonstrationen für WikiLeaks. Und die Gruppe "Anonymous", die die Cyber-Attacken organisierte hatte, ruft Internetnutzer dazu auf, stattdessen die von WikiLeaks veröffentlichten Dokumente weiter zu verbreiten, sie selbst nach bisher unbemerkt gebliebenen Informationen zu durchforsten und davon Zusammenfassungen zu erstellen, um die Inhalte stärker publik zu machen. Was bedeutet dieser Strategiewechsel?

Bogk: Wir halten es für eine wesentlich sinnvolleres Vorgehen, sich mit den Dokumenten auseinanderzusetzen, als stumpf irgendwelche Websites anzugreifen. Ein solches konstruktives Vorgehen ist für die einzelnen Teilnehmer natürlich schon schwieriger, aber ich halte die Kapazitäten für groß genug.

Vorbild Assange: Eine, zwei, viele neue Leak-Plattformen?

tagesschau.de: Bisher hat WikiLeaks ja noch gar nicht alle der in seinem Besitz befindlichen Diplomaten-Depeschen veröffentlicht, sondern sie nur den Medien zur Verfügung gestellt, die mit WikiLeaks exklusiv zusammenarbeiten. Wie verträgt sich denn diese scheibchenweise Veröffentlichung mit dem Offenheitsprinzip der Organisation?

Bogk: Es gibt zwei Gründe, warum das so passiert. Bei der Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente gab es den Vorwurf, dass diese unzureichend redigiert gewesen wären und deshalb Informanten gefährdet würden. Dem sollte jetzt vorgebeugt werden, indem die Dokumente jetzt vor der Veröffentlichung noch einmal einzeln überprüft würden. Zweitens sollte vermieden werden, dass Skandale bei einer gleichzeitigen Veröffentlichung aller Dokumente untergehen. Stattdessen gibt es nun jeden Tag neue Fakten, mit denen man sich auseinandersetzen kann.

"Journalisten waren neidisch auf WikiLeaks"

tagesschau.de: Westliche Politiker haben die Veröffentlichungen fast einhellig verurteilt, auch manche Journalisten aus klassischen Medien reagierten skeptisch auf die Enthüllungen von WikiLeaks. Wie zeitgemäß ist das?

Bogk: Durch das Internet haben wir ein Zeitalter, in dem sich solche Datenmengen - auch große - sehr viel leichter verbreiten lassen. Das wird sich auch nicht zurückdrehen lassen. Bei Journalisten wundert mich die Skepsis dem gegenüber ein bisschen. Ich unterstelle einfach mal, dass sie neidisch waren, dass sie nicht diejenigen waren, die die Informationen zugespielt bekommen haben. Meiner Meinung nach ist das übrigens ein Problem, dass WikiLeaks hier sehr selektiv vorgeht, wenn es darum geht, mit einzelnen Medien zusammenzuarbeiten.

tagesschau.de: Nach WikiLeaks soll es bald auch die Plattform "OpenLeaks" geben, die ein ganz ähnliches Konzept verfolgt. In Indonesien ist gerade eine Enthüllungswebsite namens "Indoleaks" an den Start gegangen, die nach eigenen Angaben ebenfalls Regierungsdokumente veröffentlicht. Ist das eine Stärkung der Informationsfreiheit, weil es für Regierungen und Behörden immer schwerer wird, Geheimhaltung durchzusetzen? Oder würde eine Dezentralität eher die Wirkung von Veröffentlichungen schwächen?

Bogk: Ich halte es eher für eine Stärkung. Es herrschte große Unzufriedenheit darüber, dass WikiLeaks sich im vergangenen Jahr sehr auf bestimmte Enthüllungen fokussiert hat, während andere nicht stattgefunden haben. Statt eine neutrale Plattform zu sein, ist WikiLeaks politisch in Aktion getreten, wie man immer man das auch beurteilen mag. Eine Vielzahl von Leaking-Plattformen würde diese Situation verbessern. Hinter "OpenLeaks" stehen viele Leute, die für WikiLeaks die technische Infrastruktur gebaut haben und sich damit auskennen, wie man Informantenschutz technisch umsetzt. Bei anderen Projekten ist das fraglicher, aber generell kann man es nur befürworten, wenn durch eine Vielzahl von Plattformen möglichst viele Leute in die Lage versetzt werden, Informationen ohne persönliches Risiko an die Medien zu bringen.

"Informanten werden geschützt"

tageschau.de: WikiLeaks veröffentlicht diplomatische Dokumente, die zum Beispiel in den USA der Geheimhaltung unterliegen. Die USA halten dies für strafbar und argumentieren, mit der Veröffentlichung gerieten im schlimmsten Fall Menschen in Lebensgefahr. Warum sehen Sie das anders?

Bogk: Im aktuellen Fall werden die Dokumente eben so überarbeitet, dass diese Gefahr nicht besteht. Und ganz generell muss man sich überlegen: Im Irak und Afghanistan werden Kriege geführt, in denen Hunderttausende sterben. Dass genau die Leute, diese Kriege propagieren, mit dem Vorwurf kommen, es würden Menschenleben gefährdet, ist ganz schön zynisch. Mir ist kein einziger Fall bekannt, wo jemand durch eine WikiLeaks-Veröffentlichung zu Tode gekommen ist.

Das Interview führte Fiete Stegers, tagesschau.de