Vote-Leave-Kampagne Das 350-Millionen-Pfund-Versprechen
Eine schillernde Zukunft versprachen die Brexit-Befürworter den Briten: Allein 350 Millionen Pfund sollten in das britische Gesundheitssystem fließen - pro Woche. Was ist von den Ankündigungen geblieben?
Die britische Politik sucht nach einem Weg, um einen ungeordneten Brexit zu verhindern. Experten befürchten durch einen Austritt ohne Vertrag massive Probleme für Großbritannien. Wie es mit internationalen Handelsbeziehungen weitergeht, erscheint unsicher. An den Grenzen werden lange Staus und Verzögerungen bei der Abfertigung von Gütern befürchtet. Die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland bereitet den britischen Politikern ebenfalls massives Kopfzerbrechen.
Von solchen praktischen Fragen war in der Brexit-Kampagne 2015 nicht die Rede. Die Macher versprachen Großbritannien nach einem Austritt pauschal eine goldene Zukunft - und zeichneten dagegen ein düsteres Bild, sollte das Königreich in der EU verbleiben.
Die Mär von den 350 Millionen Pfund pro Woche
Ein zentrales Versprechen lautete, durch einen Brexit könne London 350 Millionen Pfund sparen - pro Woche. Nach einem Austritt könne dieses Geld in das Gesundheitssystem fließen, behaupteten die EU-Gegner - und illustrieren diese Forderung in einer Facebook-Anzeige mit einem Bild einer älteren Dame in einem Krankenbett. Geld für die britischen Senioren statt für Bürokraten im fernen Brüssel - so lautete die Botschaft.
Geld für britische Krankenhäuser statt für die EU, so lautete das Motto.
Journalisten prüften die Aussage und kamen übereinstimmend zu dem Schluss, dass die Zahl von 350 Millionen Pfund deutlich zu hoch gegriffen war. Fullfact.org kam zu dem Schluss, dass die Zahl eher bei 250 Millionen Pfund liege, zudem müssten die Konsequenzen für die britische Wirtschaft durch einen Brexit berücksichtigt werden. Die Auswirkungen auf den Handel dürften höher liegen als die Einsparungen.
Das britische Statistikamt erklärte, das Versprechen der Brexit-Befürworter sei irreführend, da es sich um eine Brutto-Angabe handele. Es müssten aber die Zahlungen der EU nach Großbritannien gegengerechnet werden.
Der Traum vom Commonwealth
Direkt nach dem Brexit-Referendum distanzierte sich Nigel Farage von dem 350--Millionen-Pfund-Versprechen der EU-Gegner. Dafür brachte er die Wiederherstellung des Commonwealth ins Spiel. Doch auch davon ist mittlerweile nichts mehr zu hören.
Viele Brexit-Befürworter hatten damit geworben, London könne ohne EU endlich wieder eigene Handelsabkommen schmieden. Sie attackierten den damaligen US-Präsidenten, weil Barack Obama gesagt hatte, Großbritannien müsse sich bei solchen Abkommen am Ende der Warteschlange anstellen. Und Amtsnachfolger Donald Trump stellt Bedingungen für ein bilaterales Handelsabkommen mit London, den von Theresa May ausgehandelten Deal mit der EU kritisierte er deutlich.
"EU behindert Wirtschaftswachstum"
In Anzeigen auf Facebook hatte die "Vote-Leave"-Kampagne außerdem behauptet, die EU behindere Innovationen und das Wirtschaftswachstum in Großbritannien.
Die EU behindert laut "Leave"-Kampagne die Wirtschaft in Großbritannien.
Dabei sind die EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, Niederlande, Frankreich, Italien und Irland, die wichtigsten Handelspartner des Königreichs. Wie diese Geschäfte nach einem harten Brexit genau ablaufen werden, ist noch weitestgehend unklar und sorgt bei vielen Unternehmern für Verunsicherung.
Ob ein Brexit doch noch mit oder ganz ohne Deal - die Wirtschaft werde darunter leiden, erklärte der britische Finanzminister Philip Hammond Ende November. "Der Austritt aus der EU wird uns etwas kosten, weil unsere Wirtschaft dadurch behindert wird", sagt Hammond. Bei einem ungeordneten Brexit wäre die Volkswirtschaft einer Prognose der britischen Regierung zufolge in 15 Jahren um bis zu 9,3 Prozent schwächer als bei einem Verbleib. Aus rein ökonomischer Sicht, sagte Hammond, wäre es am besten, wenn Großbritannien in der EU bliebe.
Warnung vor Masseneinwanderung
Neben einer wachsenden Wirtschaft versprachen die Brexit-Befürworter, das Land werde wieder die eigenen Grenzen kontrollieren können - und so Massenzuwanderung verhindern. So wurde in der "Leave"-Kampagne Angst geschürt, durch einen angeblich bevorstehenden EU-Beitritt der Türkei würden Millionen Menschen von dort nach Großbritannien kommen.
Tatsächlich sind die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seit Jahren eingefroren. Und selbst wenn Ankara eines Tages doch noch Mitglied werden sollte, ist überhaupt nicht absehbar, wie viele Türken nach Großbritannien auswandern würden. In Deutschland war die Abwanderung in die Türkei in den vergangenen Jahren oft größer als die Zuwanderung aus dem Land.
Die Angst um den Tee
Die "Leave"-Kampagne wurde massiv über soziale Medien beworben. Nachdem der Parlamentarische Ausschuss des britischen Unterhauses lange Druck ausgeübt hatte, veröffentlichte Facebook 2018 schließlich personalisierte Anzeigen, mit denen für den Austritt geworben worden war. Die Anzeigen hatte eine kanadische Firma gebucht, darin wird unter anderem behauptet, EU-Politiker würden britisches Geld für Limousinen ausgeben, zudem wolle die EU Teekessel verbieten und so die britische Teekultur zerstören.
EU gegen britischen Tee - solche Anzeigen wurden zielgerichtet auf Facebook geschaltet.
Der Parlamentarische Ausschuss des britischen Unterhauses untersuchte die "Leave"-Kampagne. In einem Zwischenbericht hieß es, dass möglicherweise Daten von Versicherungen genutzt wurden, um personalisierte Anzeigen auf Facebook zu schalten und gezielte Werbeanrufe durchführen zu können.
"We can do it!"
Bedenken gegen einen Brexit wischte Boris Johnson kurz vor der Abstimmung 2016 beiseite. "Wir bieten den Menschen Hoffnung", verkündete Johnson. Sie behaupten, sagte Johnson in Richtung von Brexit-Gegnern, "wir könnten das nicht machen - aber ich sage: Doch, das können wir!"
Durch ein Verlassen der EU könne man wieder die eigenen Grenzen kontrollieren und enorme Geldsummen sparen, so Johnson. Er versprach, der Tag des Brexit-Referendums könne der neue Unabhängigkeitstag des Königreichs werden.
Unterstützung durch Boulevard-Blätter
Britische Boulevardmedien unterstützten die Kampagne massiv. "The Sun" titelte am Tag des Referendums mit der Schlagzeile "Independence Day" und dem Aufruf, durch die Stimmenabgabe könne man das Königreich aus der Umklammerung der EU befreien.
Über die komplexen Probleme durch einen Brexit, die möglichen Konsequenzen und wie der Austritt überhaupt praktisch umgesetzt werden kann - dazu verloren die Anführer der "Leave"-Kampagnen vor dem Referendum kaum ein Wort. Aktuell ist von ihren populistischen Versprechen auf jeden Fall nicht mehr viel zu hören.