Ein Röhrchen mit einer Virusprobe in einem Labor
faktenfinder

Coronavirus-Mutation Falscher Alarm aus Frankreich?

Stand: 05.01.2022 18:17 Uhr

Seit Dienstag macht eine neue Variante des Covid-19-Erregers mit dem Namen B.1.640.2. Schlagzeilen. Grund dafür ist ein Preprint eines hoch umstrittenen französischen Forschers.

Der erste Upload der Genomsequenz von B.1.640.2. in die weltweite Datenbank GISAID erfolgte bereits am 4. November - rund drei Wochen bevor die Omikron-Variante erstmals entdeckt wurde. Insgesamt wurde die Variante seitdem erst gut 20 Mal sequenziert, beziehungsweise in die Datenbank hochgeladen - Omikron dagegen rund 120.000 Mal, wie der Virologe Tom Peacock vom Imperial College London auf Twitter berichtete.

Er gilt als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Virusmutationen. Die Variante sei es "im Moment definitv nicht wert, sich darum Sorgen zu machen", so Peacock.

Forscher von Ärztekammer gerügt

Das von anderen Wissenschaftler:innen noch nicht begutachtete Forschungsmanuskript (Preprint), auf das sich die aktuelle Berichterstattung bezieht, stammt unter anderem vom Mediziner und Infektiologen Didier Raoult. Dieser ist in Frankreich hoch umstrittenen, da er unter anderem Covid-19-Patient:innen mit dem Malaria-Medikament Hydroxychloroquin behandelt hat, das auch Ex-US-Präsident Donald Trump eine Zeit lang propagierte.

Erst Anfang Dezember war er dafür von der französischen Ärztekammer offiziell gerügt worden, die zweithöchste Disziplinarmaßnahme nach dem (vorübergehenden oder endgültigen) Verbot des Ausübens ärztlicher Tätigkeiten.

Kult-Status unter Corona-Skeptikern

Doch Raoult wird auch vorgeworfen, am von ihm gegründeten Institut für Infektionskrankheiten der Universitätsklinik Marseille (IHU Méditerranée Infection) gegen die Regeln klinischer Studien verstoßen zu haben, und zwar in Zusammenhang mit seiner Forschung zu Covid-19. Seinen Posten als Institutsdirektor muss er unter anderem deswegen aufgeben, ein:e Nachfolger:in wird bereits gesucht. Zudem ermittelt die Marseiller Staatsanwaltschaft. Ob die aktuelle Studie zur neuen Variante, an der auch andere Forscher:innen beteiligt waren, wissenschaftlichen Standards genügt, bleibt abzuwarten.

Raoult genießt unter Corona-Skeptikern in Frankreich Kultstatus, obwohl sich seine Prognosen schon mehrfach als falsch erwiesen. So glaubte er an ein schnelles Verschwinden der Pandemie und will sich nicht gegen Corona impfen lassen, weil die Krankheit nicht tödlich sei. Stattdessen beklagt er die Machenschaften der Pharmaindustrie und warnt vor unbekannten Impfnebenwirkungen wie bei der Schweinegrippe-Impfung. Es gibt in Frankreich zahlreiches Raoult-Merchandise, von mit seinem Konterfei bedruckten Masken bis hin zu Krippenfiguren.

Social Media und Medien als Aufmerksamkeits-Verstärker

Große Aufmerksamkeit erhielt das neue Preprint durch einen Tweet des US-Mediziners Eric Feigl-Ding, der auf Twitter über 675.000 Follower hat. Feigl-Ding machte sich in Zusammenhang mit Covid-19 einen Namen, weil er frühzeitig die Alarmglocke wegen einer bevorstehenden Pandemie schlug. Allerdings steht er wegen seiner Tweets auch immer wieder in der Kritik, da er kein Infektions-Epidemiologe ist - und sich nach Auffassung von Fachkolleg:innen zu häufig zu virologischen und epidemiologischen Themenfeldern äußert, für die er keine wissenschaftliche Expertise besitzt. Feigl-Ding hat seinen ursprünglichen Tweet zur Variante mittlerweile wieder gelöscht, ohne dies transparent zu machen.

WHO beobachtet Varianten-Familie schon länger

Die Variante B.1.640.2. weist im Vergleich zum Virus-Wildtyp 23 Mutationen im sogenannten Spike-Protein auf, darunter auch solche, die es leichter ansteckend machen könnten. Der Düsseldorfer Virologe Jörg Timm sagte in einem Omikron-Briefing des Science Media Centers Deutschland auf Anfrage des ARD-faktenfinders jedoch, dass die Mutation in der Realität bislang offenbar "keinen Selektionsvorteil" habe, denn die Nicht-Ausbreitung in Südfrankreich sei dafür "ein starker Indikator". Die Variante konnte sich weder gegen Delta durchsetzen, noch ist laut Timm zu erwarten, dass sie sich gegen Omikron behaupten könne. Natürlich müsse man alle Varianten im Auge behalten, aber "niemand erwartet, dass die uns ganz große Probleme machen wird", so Timm weiter.

Im November hatte bereits die Weltgesundheitsorganisation WHO die Varianten-Familie, zu der B.1.640.2 gehört, als zu "beobachtende" Variante gekennzeichnet. In der WHO-Hierarchie ist dies allerdings nur die dritthöchste Stufe nach "besorgniserregenden" Varianten und solchen von "Interesse". Eine Variante, die aus dem Beobachtungsstadium nicht in einer der beiden anderen Kategorien aufsteigt, wird irgendwann von der WHO von der Beobachtungsliste gestrichen.

Die aktuelle Aufmerksamkeit für B.1.640.2 ist demnach weder ihrer Verbreitung noch ihrer Gefährlichkeit geschuldet, sondern lediglich der Prominenz eines umstrittenen Studien-Autors, eines reichweitenstarken Twitter-Multiplikators - und Medien, die auf entsprechende Social-Media-Hypes reagieren.