Familiennachzug Streit mit vielen Unbekannten
Die Bildung einer neuen Bundesregierung hängt derzeit davon ab, ob sich Union, FDP und Grüne bei einigen umstrittenen Themen einigen - beispielsweise beim Familiennachzug. Über wie viele Menschen man dabei überhaupt streitet, weiß niemand. Auch das Innenministerium nicht.
Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Die Sondierungen für eine Jamaika-Koalition werden auf Chefebene fortgesetzt. Nach wie vor gibt es mehrere Streitthemen - insbesondere die Energie- und Flüchtlingspolitik.
Bei dem Thema Flüchtlinge steht die Frage nach dem Familiennachzug für enge Angehörige im Fokus. Grundsätzlich gilt dabei: Asylsuchende, die in Deutschland Schutz bekommen, haben das Recht, Ehepartner und minderjährige Kinder nachzuholen. Für Flüchtlinge mit eingeschränktem Status hatte die Große Koalition den Familiennachzug im März 2016 jedoch für zwei Jahre ausgesetzt.
Die Positionen
Die Union sieht keinen Spielraum dafür, den Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus wieder zu erlauben. Unionsfraktionschef Volker Kauder sagte im ARD-Morgenmagazin, in dieser Frage bleibe die Union bei ihrer Position. "Für die subsidiär Geschützten haben wir den Familiennachzug ausgesetzt, und da ist die Union der Meinung, das soll auch so bleiben."
Die FDP formulierte in einem Positionspapier zu einer "liberalen Asyl- Flüchtlings- und Einwanderungsstrategie":
Der Familiennachzug wird beim Vorübergehenden Humanitären Schutz auf die Kernfamilie (Ehepartner, minderjährige Kinder) beschränkt und ebenfalls durch das Kriegsende befristet. Bis zur Neuordnung des Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungssystems kann der Familiennachzug bei denjenigen, die derzeit subsidiären Schutz erhalten, nur in dem Umfang ermöglicht werden, wie Kapazitäten durch verbessertes Rückkehrmanagement entstehen.
Doch schon jetzt gilt: Laut Gesetz dürfen nur die engsten Verwandte nachgeholt werden - also Kinder und Ehepartner. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge können ihre Eltern nachholen. Ob der Familiennachzug an Kapazitäten gekoppelt werden könnte, erscheint fragwürdig.
Die Grünen-Politikerin Claudia Roth schloss ein Ja ihrer Partei zur weiteren Aussetzung des Familiennachzugs aus. "Das Recht auf Familie ist ein Grundrecht, und das gilt natürlich nicht nur für die deutsche Familie", sagte sie. Der Familiennachzug sei für die Grünen "ein Kernbereich".
Die Szenarien
Im ARD-Morgenmagazin räumte CDU-Politiker Kauder ein, dass es sich um Spekulationen handele, wie viele Menschen kommen könnten. In der "Passauer Neuen Presse" sagte Kauder: "Für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus sehe ich keine Möglichkeit, den Familiennachzug wieder zuzulassen. Das sind nämlich noch einmal 300.000 Personen, die solche Anträge stellen könnten."
Grünen-Politikerin Roth nannte Zahlen von 50.000 bis 70.000 Menschen. "Das kann man in einem geordneten Verfahren organisieren", wenn nur "der politische Wille" vorhanden sei.
In den vergangenen Monaten kursierten weitere Schätzungen: So sprach Bundesinnenminister Thomas de Maizière von einer "gewaltigen Zahl" und die AfD von zwei Millionen Angehörigen. 2015 lagen die Schätzungen noch höher. So hatte die "Bild" gemeldet, dass aus geschätzt 920.000 Asylbewerbern "durch Familiennachzug bis zu 7,36 Millionen Asylberechtigte werden" könnten. Auch CSU-Politikerin Ilse Aigner sprach von bis zu sieben Millionen Menschen.
Die Fakten
Klar ist nur eins: Für Szenarien von vielen Hunderttausend bis Millionen Familienangehörigen gibt es keine seriöse Basis.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit legte im Oktober eine Prognose vor. Das IAB geht dabei bis Ende 2017 von etwa 200.000 Flüchtlinge mit subsidiären Status aus. Würde der Familiennachzug wieder erlaubt, könnten 50.000 bis 60.000 Personen hinzukommen. Dass es nicht mehr seien, habe vor allem zwei Gründe: Viele der in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland gekommenen Asylbewerber sind der Untersuchung zufolge jung und ledig. Von jenen wiederum, die verheiratet sind und Kinder haben, sind verhältnismäßig viele bereits mit Familie geflüchtet. Auf diese Berechnungen des IAB stützen sich offenkundig die Grünen.
Doch einige Experten halten die Zahlen für zu niedrig angesetzt. Auch das Bundesinnenministerium erklärte auf Anfrage des ARD-faktenfinders, der Aussagegehalt sei eingeschränkt. So habe das IAB beispielsweise nur volljährige Personen befragt. Und weiter:
Ob die gezogene Stichprobe tatsächlich repräsentativ ist, ist ebenfalls fraglich, da Angaben zu ihrem Zustandekommen im Bericht fehlen.
Eine weitere Basis für Prognosen sollten Zahlen aus dem Auswärtigen Amt liefern. Demnach bemühten sich zuletzt rund 70.000 Syrer und Iraker um Familiennachzug zu Angehörigen in Deutschland. In dieser Zahl lagen an den zuständigen deutschen Auslandsvertretungen in Beirut, Amman, Erbil, Ankara, Istanbul und Izmir entsprechende Terminanfragen vor. Von Anfang 2015 bis Mitte 2017 erteilte das Auswärtige Amt bereits rund 102.000 Visa zum Familiennachzug für Syrer und Iraker. Auf Basis dieser Zahlen wurde geschätzt, dass bis 2018 etwa 100.000 bis 200.000 Menschen hinzukommen könnten. Doch auch diese Zahlen erscheinen nur bedingt belastbar. Denn der Schutzstatus der Syrer und Iraker, die sich um einen Familiennachzug bemüht haben, ist unbekannt.
Wie viele Flüchtlinge wirklich enge Angehörige nachholen wollen, ist unklar.
Das Bundesinnenministerium zeigt sich daher zurückhaltend und teilte mit, nachhaltig belegbare Zahlen zum Familiennachzug gebe es nicht. In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Franziska Brantner heißt es, Nachzugsfaktoren könnten auch nicht mit der Zahl der erteilten Visa begründet werden.
Die Folgen der Aussetzung des Nachzugs
Die Linkspartei bezweifelt, ob eine Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs überhaupt mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit vereinbar wäre. Linken-Politikerin Ulla Jelpke erklärte, nach geltender Rechtslage könnten die Betroffenen bislang davon ausgehen, dass ab März der Familiennachzug wieder ermöglicht wird. Das Auswärtige Amt habe zugesagt, entsprechende Visaanträge im Vorgriff auf diese Regelung ab Januar 2018 zu bearbeiten. Jelpke weiter: "Dass diese bisherigen Zusagen nicht mehr gelten sollen, obwohl die voraussichtlichen Fallzahlen weitaus geringer sind als von der Bundesregierung ursprünglich angenommen, ist nicht nur inhuman, sondern auch rechtsstaatswidrig."
Experten sehen in dem Nachzug von engen Verwandten außerdem ein wichtiges Instrument, um die Integration zu verbessern. Der Beauftragte des Bundesinnenministers für Flüchtlingsmanagement, Frank-Jürgen Weise, meint zudem, die Aussetzung des Familiennachzugs sei ein Grund, warum die Gerichte stark mit Asylverfahren beschäftigt seien. Im SWR sagte Weise, Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutz versuchten dort einen "individuellen Schutz" zu erreichen, weil ihnen sonst der Nachzug ihrer Angehörigen untersagt ist.
Fazit
Für die Betroffenen bleibt die Lage schwierig: Flüchtlinge mit subsidiären Schutz hatten gehofft, ab März 2018 enge Verwandte wiedersehen zu können. Doch Union, FDP und Grüne haben auf dem Weg zu einer Koalition die Frage nach dem Familiennachzug zu einem zentralen Streitthema gemacht. Folgt man den Aussagen der beteiligten Politiker, könnte es die Sondierungsgespräche sogar beenden.
Ein Kompromiss ist derzeit nicht in Sicht - vielleicht auch, weil man gar nicht sagen kann, über wie viele Menschen man überhaupt verhandelt. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums teilte auf Anfrage dazu mit, die Entwicklung des Familiennachzugs sei von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, nicht zuletzt der Entwicklung der Situation in Syrien. "Eine Prognose des Zugangs 2018 ist daher nicht möglich."