Impfreihenfolge Wird in Deutschland Impfstoff vernichtet?
Immer wieder wird behauptet, in Deutschland werde Impfstoff lieber weggeschmissen, anstatt diesen im Zweifelsfall an noch nicht Berechtigte zu verimpfen. Doch Belege dafür fehlen.
Die Geschichte klingt unglaublich: An einer deutschen Klinik soll Impfstoff weggeschmissen worden sein, anstatt ihn zu verimpfen. Das behauptet jedenfalls ein Twitter-Account, dessen Inhaber von sich sagt, er sei Medizinstudent im Pflegepraktikum an einem Lehrkrankenhaus. Seiner Darstellung nach wurde in der Klinik Impfstoff aufgezogen, aber nachdem sich aus der entsprechenden Prioritätsgruppe niemand mehr zum Impfen gefunden habe, sei ihm die Impfung dennoch verweigert worden, da er noch nicht dran sei. Die Dosis sei anschließend vernichtet worden.
Auf Nachfrage gab der Account-Inhaber an, dass er aus Angst vor Repressalien und weil er noch ein langes Studium vor sich habe, keine näheren Angaben zur Sache machen wolle. Auch für ein Hintergrund-Gespräch zu dem Vorfall stand er nicht zur Verfügung. Er werde den mittlerweile auf privat gestellten Account demnächst löschen, da die Gefahr für ihn zu groß sei, in einem "von Hierarchie, starken Machtgefällen und persönlichen Repressalien geprägten Gesundheitssystem, in dem "freie Kritikäußerung" unerwünscht sei.
Der Tweet fand am Mittwochmorgen vorübergehend starke Verbreitung: Bevor der Account auf "privat" gestellt wurde, hatte er bereits mehrere Tausend Likes und annähernd 1000 Retweets, darunter von Prominenten und Publizisten wie Ahmad Mansour, aber auch dem FDP-Politiker Konstantin Kuhle:
Unikliniken sind keine Vorfälle bekannt
Der ARD-faktenfinder hat bei den größten deutschen Universitätskliniken und Lehrkrankenhäusern nachgefragt, ob sie einen derartigen Vorfall für möglich halten. Nicht alle haben kurzfristig geantwortet, die Meinung der Antworten war aber einhellig: Markus Heggen, Sprecher der Berliner Charité, sagte: "Sollten Eingeladene ihre Termine im hausinternen Impfzentrum der Charité kurzfristig absagen, greift eine Nachrückerliste, so dass keine Impfdose verloren geht. Auch Studierende erhalten an der Charité ein Impfangebot." Generell gebe es "eine große Nachfrage und Impfbereitschaft" - bis Ende letzter Woche seien bereits "mehr als 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unternehmensintern geimpft" worden.
Auch das Uni-Klinikum Erlangen teilte mit: "Nein, so etwas gibt es bei uns nicht. Es wird und wurde keine Impfdose im Mitarbeiterimpfzentrum verworfen, weil Mitarbeiter kurzfristig zur Impfung kommen können, falls ein anderer Kollege einen geplanten Impftermin abgesagt hat." Auch am Zentralen Impfzentrum der Unklinik Freiburg werden laut Sprecher Benjamin Waschow "erstens keine Impfdosen vernichtet und zweitens können sich bei uns auch Studenten, die am Patienten tätig sind, impfen lassen."
Im Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf sei "noch nie eine Dose Impfstoff weggeschmissen worden, weil wir keine Impfberechtigten mehr gefunden hätten", erklärte Sprecherin Saskia Lemm. Im Gegenteil: Man habe bereits 5000 Dosen verimpft und die Nachfrage sei "ungeheuer hoch". Eine weitere Klinik merkte zudem an, dass es aus ihrer Sicht nicht plausibel erscheine, dass man ausgerechnet den gut lagerbaren AstraZeneca-Impfstoff in zu großer Menge aufziehe - und dann Dosen wegschmeißen müsse.
Impfstoffvernichtung nur in Einzelfällen
Immer wieder kursiert die Behauptung, es seien Impfdosen vernichtet worden, in sozialen Medien. So twitterte auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner am Mittwoch, in Deutschland würden Impfdosen vernichtet:
Auf Nachfrage sagte sein Sprecher Fabian Leber, Lindner habe sich unter anderem auf ein Interview in der "tageszeitung (taz)" bezogen, in welchem ein Hausarzt gesagt hatte: "In Impfzentren wurden nicht aufgebrauchte Impfdosen teilweise weggeschmissen oder an Menschen verimpft, die offiziell noch nicht dran waren." Allerdings bleibt auch diese Angabe sehr vage.
Es gab Einzelfälle
Lediglich in Einzelfällen hat es offenbar entsprechende Vorfälle gegeben: So räumte das Brandenburger Gesundheitsministerium ein, dass im Januar - einen Tag nach dem Start des Impfzentrums Oranienburg - "aufgrund einer kurzfristigen unvorhersehbaren Absage eines mobilen Impftermins 36 Impfdosen entsorgt" wurden, da "vor Ort keine weiteren Personen gefunden werden konnten, die laut Corona-Impfverordnung impfberechtigt gewesen wären". Der bereits am Donnerstag aufgetaute mRNA-Impfstoff wäre am darauffolgenden Wochenende verfallen, daher habe man diesen entsorgen müssen.
Bereits Anfang Februar hatte das Ministerium nach Berichten der Lokalpresse erklärt: "Die Vorwürfe, dass in mehreren Corona-Impfzentren, unter anderem in Oranienburg, Corona-Impfstoffe in größeren Mengen im Müll gelandet seien, sind falsch."
Impfverordnung regelt das Vorgehen
Da nach der Impfverodnung des Bundes im Zweifelsfall alle in Deutschland gesetzlich oder privat Krankenversicherten impfberechtigt sind, gehe man im Falle übrig gebliebener Impfdosen die Priorisierungsliste so lange herunter, bis man Anspruchsberechtigte finde. "Wir impfen jeden Tag Tausende Menschen - und verimpfen nach allen Möglichkeiten jede einzelne Dosis", so Sprecher Gabriel Hesse.
Auch an anderen Orten wiesen Leiter von Impfzentren und lokale Behörden entsprechende Vorwürfe immer wieder zurück. Insgesamt gibt es keine Belege, dass in Deutschland flächendeckend Impfdosen vernichtet werden, weil keine Angehörigen bestimmter Priorisierungsgruppen zur Verfügung stünden. Allerdings bleiben aufgrund der Priorisierung derzeit viele Dosen erst einmal liegen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat bereits angekündigt, die Impfverordnung ändern zu wollen, um für mehr Tempo zu sorgen.