Messerattacken in Deutschland Defizitäre Statistiken
Wie viele Messerattacken gibt es in Deutschland? Und steigt die Zahl solcher Delikte? Diese Fragen werden derzeit hitzig diskutiert. Statistiken geben nur bedingt Auskunft.
Die AfD hat am Freitag im Bundestag von permanenten Messerattacken gesprochen, allein in Berlin seien es sieben pro Tag. Diese Annahme basiert auf einer Antwort des Senats auf eine CDU-Anfrage. Darin heißt es, 2017 habe es 2737 Taten gegeben, bei denen ein Messer als Tatmittel erfasst wurde. Diese Zahl wurde durch 365 Tage geteilt.
"Tatmittel heißt nicht Messerattacke"
Die Gesamtzahl, bei der ein Messer erfasst wurde, sei korrekt, teilte die Polizei in Berlin mit. Allerdings bedeute das nicht, dass in all diesen Fällen "Messerattacken" erfolgt seien.
Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Inneres sagte dem ARD-faktenfinder, es sei nicht seriös, von den erfassten Fällen auf sieben Messerattacken pro Tag zu schließen. Dies sei faktisch, rechtlich und statistisch nicht haltbar. "Messer als Tatmittel" wird bei Tötungsdelikten, Raub, Körperverletzungen auch dann erfasst, wenn ein Täter ein Messer am Hosenbund sichtbar mitführe, es aber nicht als Tatwaffe im Sinne von "Verletzungen zufügen" einsetze.
Bis zu 300 Prozent mehr in "manchen Metropolen"?
Die "Bild"-Zeitung hatte berichtet, in Leipzig habe es seit 2011 sogar bis zu 300 Prozent mehr Messerattacken gegeben. Die AfD griff diese Zahl im Bundestag auf. Ihr Abgeordneter Martin Hess behauptete, die Zahl sei "in manchen Metropolen um bis zu 300 Prozent gestiegen".
Die AfD sprach von bis zu 300 Prozent Steigerung in "manchen Metropolen".
Ein Sprecher der Polizei Leipzig betonte, dass diese Zahl nicht belastbar sei: Während die Zahlen für 2017 noch ganz zu recherchieren seien, sei dies "für 2011 aufgrund eventuell eingetretener Verjährungs-/Löschfristen nicht mehr zwingend der Fall". Wie hoch der Anstieg also tatsächlich sei, könne man nicht sagen - auch nicht prozentual.
Zudem werden der Polizei Leipzig zufolge in der Statistik unter anderem Taten erfasst, bei dem sich jemand mit einem Messer verteidigt habe.
Schwerer Vorfall in Niedersachsen
In Niedersachsen ereignete sich am Wochenende eine schwere Messerattacke. Nach einem Streit mit Jugendlichen in Burgwedel wurde eine Frau niedergestochen. Die 24-Jährige kam mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus. Ein 17- und ein 14-jähriger syrischer Flüchtling stehen unter Verdacht, auf die Frau eingestochen zu haben.
Ob diese Tat für einen Trend steht, lässt sich bislang nicht seriös beurteilen. Im vergangenen Jahr hatte es nach Angaben des Landeskriminalamts in Niedersachsen insgesamt 1922 Fälle gegeben, in denen "ein Messer in irgendeiner Form eingesetzt wurde". Die Zahlen waren zwischen 2012 und 2014 stabil, 2014 bis 2016 gab es jeweils einen Anstieg um 14 Prozent, 2017 wieder einen leichten Rückgang.
"Kein überproportionaler Anstieg"
Allerdings weist das LKA darauf hin, dass der Anteil der Delikte mit Messern insgesamt relativ gering sei, bei Raubtaten seien es beispielsweise 348 von insgesamt 3434 Fällen. "Vor dem Hintergrund dieser Fallzahlen relativiert sich der in den Jahren 2012 bis 2016 registrierte Anstieg von Straftaten mit dem Tatmittel Messer", teilte das Landeskriminalamt mit. So lag der Anteil der Taten mittels Messer 2017 demnach insgesamt bei etwa 2,8 Prozent.
Seit 2015, dem Jahr, als Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen, sei "kein überproportionaler Anstieg zu verzeichnen". Daher sehe das LKA auch keinen akuten Handlungsbedarf.
In Schleswig-Holstein war die Zahl der Delikte, bei denen die Tatwaffe Messer erfasst wurde, 2017 rückläufig. Allerdings betonte auch hier die Polizei, dass das Gesetz den Begriff "Messerattacke" nicht kenne. Daher würden in den Statistiken auch Versuchstaten aufgeführt sowie Fälle, bei denen ein Beteiligter ein Messer bei sich hatte.
Zunahme in einigen Bundesländern
In einigen Bundesländern wurde allerdings eine Zunahme von Delikten mit Messern beobachtet, beispielsweise in Hessen und Rheinland-Pfalz. Und der Senat für Inneres in Bremen teilte mit:
Trotz eines allgemeinen Rückgangs der Gewaltkriminalität auf den niedrigsten Stand in den letzten fünf Jahren, stellt die Polizei innerhalb des Phänomens die Zunahme von Gewalttaten unter Einsatz eines Messers fest. Es geht dabei um eine Steigerungsrate von rund 20 Prozent im Vergleich zu 2014.
In Baden-Württemberg hatte die Polizei in den vergangenen Jahren einen Anstieg der erfassten Taten mit Stichwaffen registriert. Für das Jahr 2017 wurden aber keine wesentliche Veränderung festgestellt - sowohl bei den Straftaten gesamt als auch bei dem Schwerpunkt der Rohheitsdelikte/Straftaten gegen die persönliche Freiheit im Zusammenhang mit dem Tatmittel Messer.
Zahlen aus Pressemitteilungen
Bundesweite Zahlen liegen nicht vor. Und auch in mehreren Bundesländern werden Delikte mit Stichwaffen nicht extra ausgewiesen - so beispielsweise in Bayern, Hamburg, dem Saarland, Sachsen-Anhalt und NRW. Die SPD-Fraktion im Landtag von Düsseldorf fertigte daher eine eigene Aufstellung an. Sie ließ einen Praktikanten Pressemitteilungen auf dem Online-Portal "Blaulicht.de" auswerten - und kam auf 572 Angriffe mit Stichwaffen zwischen dem 1. September 2017 und dem 9. März 2018.
Dies würde drei Attacken pro Tag entsprechen. Darunter finden sich beispielsweise ein Raub mit Messer in einer Kölner S-Bahn, Angriffe von Personen, die offenkundig unter Drogen standen oder psychisch krank sind und Konflikte zwischen Flüchtlingen. In der SPD-Aufstellung heißt es: "Bei Massenschlägereien zwischen Gruppen unterschiedlicher Nationalitäten und ethnischer Zugehörigkeit als auch Raubüberfällen scheinen Messer die Waffe der Wahl zu sein."
"Aufwändige Erfassung"
Doch Auswertungen von Online-Pressemitteilungen sind nicht ausreichend für fundierte Beurteilungen der Kriminalitätsentwicklung. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Andrè Schulz, bestätigte im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder, die Erfassung bei Angriffen mit Messern sei defizitär:
Das Tatwerkzeug (Messer) kann, muss aber nicht zwingend erfasst werden, d.h. konkrete Aussagen über Zunahmen von entsprechenden Delikten können nur vorgenommen werden, wenn gesonderte Statistiken bei den Dienststellen geführt werden - was aber selten der Fall ist. Ansonsten müssten die Akten händisch ausgewertet werden. Grundsätzlich sind belastbare Daten natürlich immer von Vorteil, aber die Umsetzung dürfte nicht einfach sein, da man eine gefährliche Körperverletzung mit zahlreichen Gegenständen oder auch in anderer Begehungsform erfüllen kann. Hier die entsprechenden Pflichtfelder bei der Erfassung einzuführen ginge zwar, ist aber verhältnismäßig aufwändig.
Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow, sagte der "Welt am Sonntag", es sei "höchste Zeit, diesem Deliktphänomen auf den Grund zu gehen". Dazu gehöre auch, mit Messern begangene Straftaten bundesweit zu erfassen und Täterkategorien zu bilden. Zudem sollten härtere Strafen geprüft werden.
BDK-Chef Schulz meint hingegen, das Waffenrecht sei hinsichtlich Stichwerkzeugen schon recht scharf. Messer seien in der Schule nach den Hausordnungen bereits verboten. "Und wird ein Messer eingesetzt, ist es ein Tatmittel für mindestens eine gefährliche Körperverletzung. Es ist also bereits strafbar." Er hält härtere Gesetze für überflüssig, denn tödliche Messer seien in jedem Haushalt vorhanden.
BDK- Chef Schulz hält die Gesetzeslage für ausreichend.
Neue Statistiken?
NRW wird ab 2019 seine Statistik zu Delikten mit Messern erweitern. Dabei soll unter anderem differenziert werden, um welche Art von Stichwaffe es sich handelt. Und auch Bremen erklärte auf Anfrage des ARD-faktenfinder, es werde sich nicht verschließen, wenn alle Länder die Polizeilichen Kriminalstatistiken dahingehend verfeinern würden.