Russische Verschwörungsmythen Nawalny, Timoschenko und die Charité
Zur besten Sendezeit zeigt der russische Staatssender "Rossija 1" eine bunt gestrickte Verschwörungserzählung rund um den Oppositionellen Nawalny und die Berliner Charité. Es ist nicht die einzige.
Einer der reichweitenstärksten russischen Fernsehsender "Rossija 1" widmete sich 20 Minuten lang einer Verschwörungserzählung: Die Berliner Charité habe eine "Schlüsselfunktion" im Fall des vergifteten Kremelkritikers Alexej Nawalny. Und: Die Geschichte sei mit der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko verbunden.
In der Ukraine sei die inhaftierte Politikerin noch joggen gewesen, wie eingespielte Videoaufnahmen beweisen sollen. Doch deutsche Ärzte der Charité hätten ihr fälschlich eine "ernsthafte Erkrankung" diagnostiziert, um sie aus der Haft zu holen. In einem Video soll der sie damals behandelnde Arzt auf einer Yacht mit "leichtem Mädchen" durch Kiew geschippert sein.
Vermengt werden diese vermeintlichen Enthüllungen dann noch mit dem ehemaligen ukrainischen Präsidentschaftsanwärter Viktor Juschtschenko, der sich durch einen vorgetäuschten Giftanschlag seinen Wahlsieg habe holen wollen, und dem regimekritischen Autor Arkadi Babtschenko, dessen Tod Geheimdienste in der Ukraine vorgetäuscht haben.
Verschwörungen und "Infolärm"
Es ist ein buntes Potpourri, an dessen Ende viele Fragen stehen. Eine klafft ganz groß über dem Bild der Charité: "Wie kann man denen noch glauben?" Typisch sei das, meint Anton Himmelspach, der für das Online-Portal dekoder russische Medien beobachtet: "Medien und staatliche Quellen streuen so viele unterschiedliche Thesen wie möglich und Russland ist immer das Opfer", sagte Himmelspach dem NDR-Medienmagazin ZAPP. Dadurch würden offensichtliche Fakten plötzlich fraglich, die Lage vage und niemand blicke mehr durch. Sich da eine vernünftige Meinung zu bilden sei kaum möglich. "Infolärm", nennt Himmelspach das.
Während hierzulande in den Medien die emotionalen Bilder dominieren, die von Nawalny selbst in sozialen Netzwerken geteilt werden, folgte in Russland eine krude Anschuldigung der nächsten. Es wird in alle Richtungen geschossen, völlig egal, ob die diversen Thesen sich widersprechen oder plausibel sind.
Der Berliner Patient
Zunächst wurde über den unliebsamen "Blogger", wie ihn viele russische Journalisten immer noch nennen, von öffentlicher Seite gar nicht viel gesagt. Bis vor kurzem sprachen Wladimir Putin und seine Minister am liebsten vom "Berliner Patienten" - eine Bezeichnung, die so auch von russischen Medien übernommen wurde. Danach machten wilde Theorien die Runde. Eine Chronologie:
- Kremlsprecher Dimitri Peskow sagte Ende August, er gehe nicht von einer Vergiftung aus, Omsker Ärzte diagnostizierten eine Stoffwechselkrankheit.
- Nawalny sei vergiftet worden, aber nicht durch Nowitschok.
- Nawalny wurde durch Nowitschok vergiftet, aber nicht in Russland, sondern im Flugzeug nach Deutschland oder durch in der Charité selbst.
- Nawalny wurde durch Nowitschok in Russland vergiftet, hinter dem Ganzen stecke aber ein Plot, um Nord Stream 2 zu verhindern.
In einem Telefonat Mitte September unterbreitete Putin seinem französischen Amtskollegen Macron dann eine ganz neue Theorie: Nawalny könne sich ja auch selbst vergiftet haben. Und dazwischen sprießen dutzende kleinere Nebenarme, die ein großflächiges Netz an wilden Erklärungen und Angriffen weben, wo irgendwo die Wahrheit sitzen soll.
Orchestrierung nicht notwendig
Große Verschwörungen, inmitten dutzender Nebelkerzen. Die seien allerdings nicht notwendigerweise orchestriert, erklärt Himmelspach von dekoder, sondern entstünden auch im "Autopiloten": durch vorauseilenden Gehorsam und Selbstzensur, unter dem Mantel des "kritischen Journalismus".
So wurde schon über den Absturz des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine berichtet, so wird im Fall Nawalny reagiert. Himmelspach, aber auch den Eurotopics-Korrespondenten Lothar Deeg überraschen solche Vorwürfe nicht. Auch hier sei es wieder typisch, unterschiedliche Fälle zu einem großen Verschwörungsnarrativ zu verknüpfen.
Erfolg auch in Deutschland
Die fielen nicht nur in Russland auf einen fruchtbaren verschwörungstheoretischen Boden, sondern auch in Deutschland. Hier wird das "Rossija 1"-Video bereits über Telegram-Gruppen geteilt. Der Linkspartei-Politiker Gregor Gysi hält gar "Gegner der Erdgasleitung" Nord Stream 2 für mögliche Auftraggeber. Er wisse nichts und wolle auch nichts unterstellen, schiebt er schnell noch hinterher. Auch der ehemalige Linkspartei-Vorsitzende Klaus Ernst fragte, wem die Vergiftung Nawalnys nütze - und antwortete gleich selbst: am meisten den Amerikanern.
In diesem Modus lückenhafte Fakten von kruden Theorien auseinander zu halten, scheint da selbst manchem Linken-Politiker schwer zu fallen. Die Charité will sich zu den vermeintlichen "Enthüllungen" des russischen Staatssenders öffentlich nicht äußern. Nur so viel: Sie kommentiere in diesem hochpolitischen Fall gar nichts.