Corona in Deutschland Die strengsten Maßnahmen der Welt?
Laut dem Covid-Stringency-Index der Uni Oxford hat Deutschland die strengsten Maßnahmen gegen die Pandemie weltweit. Doch ein genauerer Blick zeigt: Die Darstellung vereinfacht komplexe Regelungen.
Deutschland habe die härtesten Maßnahmen gegen Corona weltweit - das hat unter anderem Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff in der vergangenen Woche bei einer Pressekonferenz betont. Auch in verschiedenen Online-Diskussionen wird dies immer wieder behauptet.
Haseloff bezog sich dabei nach Angaben seines Sprechers auf eine Darstellung von Statista, diese wiederum basiert auf dem Covid-Stringency-Index der Uni Oxford. Der Index soll die Reaktion von Regierungen sowie die Strenge von Maßnahmen international vergleichbar darstellen. Dafür werden Daten aus verschiedenen Staaten gesammelt, nach Kategorien sortiert und bewertet. Daraus ergibt sich ein Punktesystem, das von null (gar keine Maßnahmen) bis 100 reicht.
Deutschland kommt bei dieser Bewertung am 31. Dezember 2021 auf mehr als 84 Punkte - weltweit Spitze. Die Bundesrepublik liegt damit beispielsweise vor China. Die hohe Punktzahl wird den Angaben zufolge durch einige Maßnahmen besonders nach oben getrieben, beispielsweise die Schließung von Schulen, Einschränkungen im öffentlichen Personenverkehr, geschlossene Geschäfte und die Maskenpflicht in Teilen des öffentlichen Lebens.
Schulen geschlossen?
Doch diese Angaben werfen einige Fragen auf. Denn so sind beispielsweise die allermeisten Schulen in Deutschland nicht geschlossen. Im Gegenteil, die Kultusminister betonten jüngst noch einmal, dass diese offen bleiben sollten.
Ebenso sind weiterhin Geschäfte, Restaurants, Bars, Museen und Kulturstätten zumeist geöffnet - im Gegensatz zum Lockdown zu Beginn der Pandemie. Dennoch werden die derzeitigen Maßnahmen in dem Index strenger eingestuft als die im Frühjahr 2020 oder 2021, als tatsächlich bundesweit viele Geschäfte sowie Gaststätten, Kultureinrichtungen und vor allem Schulen geschlossen waren.
Lockdown in den Niederlanden weniger streng?
Nicht nur beim zeitlichen Verlauf fallen Ungereimtheiten auf, auch beim Vergleich von Staaten. So soll Deutschland dem Index zufolge in den vergangenen Wochen viel strengere Regeln gehabt haben als die Niederlande, wo Mitte Dezember ein landesweiter Lockdown verhängt wurde.
Dennoch kamen die Niederlande auf einen Wert von 64 Punkten - 20 Punkte weniger als Deutschland.
Schärfste regionale Maßnahme wird gewertet
Doch wie kommen diese Bewertungen zustande? Dies erklärt sich aus der Datengrundlage des Indexes. So variieren die Maßnahmen innerhalb eines Landes teilweise stark - in der Bundesrepublik mit ihrem ausgeprägtem föderalen System sind diese Differenzen oft besonders ausgeprägt. Doch für den Index werden stets die regionalen Maßnahmen berücksichtigt, die am schärfsten sind - auch wenn sie sich lediglich auf einige Landkreise beziehen. So heißt es zur Erklärung: "If policies vary at the subnational level, the index shows the response level of the strictest subregion."
Projektleiter Thomas Hale bestätigt dies auf Anfrage von tagesschau.de: "Wenn nur ein Bundesland in Deutschland die strengsten Vorschriften eingeführt hat, der Rest des Landes aber keine ähnlichen Vorschriften hat, erfassen wir die strengsten Vorschriften und fügen eine entsprechende Kennzeichnung hinzu."
Lockdowns in Bayern und Sachsen
So hatte es angesichts extrem hoher Inzidenzwerte und voller Krankenhäuser in Bayern und Sachsen regional Lockdowns gegeben, während das Leben im Großteil des Bundesgebietes ohne solche Einschränkungen weiterlief. Doch genau diese Lockdowns wurden als Referenz für ganz Deutschland gewertet.
Schweden strenger als Dänemark?
Es gibt weitere erstaunliche Ergebnisse: In Skandinavien beispielsweise hat Schweden dem Index zufolge derzeit deutlich strengere Maßnahmen als Dänemark, obwohl die Regierung in Kopenhagen nach dem Vormarsch der Omikron-Variante weitreichende Maßnahmen beschlossen hatte.
Projektleiter Hale erklärte dazu, die schwedischen Maßnahmen könnten auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. "Nach langen Diskussionen in unserem Team haben wir beschlossen", so Hale, die strengen Empfehlungen des [damaligen] Ministerpräsidenten Stefan Löfven als de facto erforderliche Maßnahmen zur Einschränkung von Gruppenversammlungen zu kodieren, auch wenn diese nicht durch Gesetze durchsetzbar sind.
China hingegen, das bereits bei kleinen Ausbrüchen mit massiven Abriegelungen reagiert, hat im gesamten Verlauf der Pandemie nicht einmal den Wert erreicht, den Deutschland derzeit verzeichnet.
Vorschriften für Ungeimpfte werden ausgewertet
Forscher Hale erklärt dazu, der Wert für Deutschland sei derzeit besonders hoch, weil die jeweils strengsten geltenden Vorschriften für den Index berücksichtigt würden. Und das sind Regelungen wie 2G für bestimmte Geschäfte oder Restaurants. Maßnahmen also, die nicht die große Mehrheit beschränkt, sondern für ungeimpfte Personen gelten. Man arbeite aber daran, das Datenerfassungssystem so zu verbessern, um sowohl die für geimpfte als auch für ungeimpfte Personen geltenden Vorschriften zu erfassen, so Hale.
Aber auch dies führt zu Ungenauigkeiten. So heißt es bei Deutschland in der Kategorie öffentlicher Personenverkehr "Require closing (or prohibit most citizens from using it)". Doch weder wird der Verkehr eingestellt, noch gibt es ein Verbot für die meisten Menschen, Busse und Bahnen zu benutzen. Die 3G-Regelung ist auch für ungeimpfte Menschen kein Hindernis.
Projektleiter Hale warnt davor, den Index zu stark zu interpretieren. Dieser sei "als einfache Zusammenfassung der Anzahl und Intensität der geltenden Beschränkungen zu verstehen". Der Covid-Stringency-Index gebe "lediglich an, welche Länder eine strengere Politik - für Ungeimpfte - verfolgen".
Unstrittig ist, dass Deutschland weitreichende Einschränkungen gegen Covid-19 verhängt hat. Ob die Bundesrepublik aber die strengsten Regeln weltweit hat, lässt sich angesichts der Limitationen mit dem Index kaum belegen.