Sterbefälle seit Pandemie-Beginn Studie zur Übersterblichkeit sorgt für Wirbel
Eine Studie konstatiert für das zweite und dritte Pandemiejahr eine höhere Übersterblichkeit als 2020. Dabei korreliere der Anstieg mit Beginn der Impfkampagne. Doch Experten halten das für irreführend.
"Explosive Studie zur Übersterblichkeit in Deutschland" - titelt das bei der "Querdenker"-Bewegung beliebte Onlineportal "Report24" Anfang Juni. Demnach zeige eine Untersuchung des Mathematikers Matthias Reitzner von der Universität Osnabrück gemeinsam mit dem Psychologen Christof Kuhbandner von der Universität Regensburg, dass die Zahl der Todesfälle in direktem zeitlichen Zusammenhang zu der Corona-Impfkampagne "explodierte". Auch Totgeburten hätten "rapide" zugenommen. Bei der "Achse des Guten" schreibt ein Autor, als einziger Faktor, der die Übersterblichkeit erkläre, komme die Impfkampagne infrage.
Einzelne Passagen und Grafiken der Studie werden in diversen Verschwörungskanälen auf Telegram geteilt und dienen als vermeintliche Belege für die Gefahr der Corona-Impfstoffe. Doch diese Schlussfolgerung aus den Studienergebnissen ist aus Sicht von Experten aus mehreren Gründen falsch.
2022 starben mehr Menschen als in den Vorjahren
Dass die Übersterblichkeit in vielen Monaten in den Jahren 2021 und 2022 höher lag als im ersten Pandemiejahr 2020, ist keine neue Erkenntnis. Übersterblichkeit bedeutet, dass mehr Menschen sterben, als es anhand von statistischen Berechnungen erwartet worden wäre. Das Statistische Bundesamt (Destatis) hat seit der Corona-Pandemie die Übersterblichkeit für die einzelnen Wochen und Monate ausgewiesen, so dass bereits Ende des Jahres 2022 feststand, wie sich die Übersterblichkeit im Verlauf der Pandemie entwickelt hatte.
Für ganze Jahre fertigt Destatis jedoch keine Übersterblichkeitsstatistiken an, dafür aber die Sterbefallzahlen. Demnach sind im Jahr 2020 insgesamt 985.572 Menschen gestorben - etwa fünf Prozent mehr als im Vergleich zum Vorpandemiejahr 2019. Im Jahr 2021 waren es noch einmal etwa vier Prozent mehr: 1,02 Millionen. Und die vorläufigen Zahlen für das Jahr 2022 zeigen wiederum einen Anstieg auf 1,06 Millionen - vier Prozent mehr als im Vorjahr und knapp 13 Prozent mehr als 2019.
Ein Anstieg der Todesfälle ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer Übersterblichkeit, da beispielsweise durch einen zunehmenden Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung mit einer Steigerung der Sterbefälle gerechnet wird.
Nach Angaben von Destatis starben in den ersten beiden Pandemiejahren jedoch etwa 70.000 bis 100.000 Menschen mehr als erwartbar gewesen wäre. Für das Jahr 2022 liegen die Zahlen von Destatis noch nicht vor. Jedoch lag hier die Übersterblichkeit in einzelnen Monaten bei mehr als 20 Prozent über dem Median der Vorjahre, der von Destatis als Vergleichswert bei der Berechnung der Übersterblichkeit herangezogen wird.
Der Median ist der Wert, der genau in der Mitte einer Datenreihe liegt, die nach der Größe geordnet ist. Er wird auch Zentralwert genannt, weil gleich viele Daten darunter wie darüber liegen. Er hat den Vorteil, dass der Einfluss einzelner extremer Ausreißer auf eine Statistik reduziert wird. Der Median ist dabei nicht zu verwechseln mit dem arithmetischem Mittelwert, bei dem einfach der Durchschnitt aller Daten errechnet wird.
Methodischer Part "sorgfältig durchdacht"
Für ihre Studie haben Kuhbandner und Reitzner die prozentuale Übersterblichkeit für die Jahre 2020 bis 2022 für einzelne Altersgruppen errechnet, basierend auf den ohne Pandemie zu erwartbaren Sterbefällen nach der Methode der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) und Destatis. Das Ergebnis: Während es im Jahr 2020 keine wirkliche Übersterblichkeit gab (+0,41 Prozent), starben 2021 etwa 34.000 mehr Menschen als erwartet und 2022 sogar 66.000. Dabei sei die hohe Übersterblichkeit vor allem auf einen Anstieg der Sterbefälle in den Altersgruppen zwischen 15 und 79 Jahren zurückzuführen.
Der methodische Part der Studie ist aus Sicht von Giacomo De Nicola und Göran Kauermann, Doktorand und Professor für Statistik an Universität München, sorgfältig durchdacht und erläutert. Lediglich die Entwicklung der Sterbefälle anhand der DAV-Daten halten die beiden für falsch gewählt. Das wirke sich vor allem auf das Jahr 2022 aus, wo die Zahl der erwartbaren Sterbefälle höher hätte ausfallen müssen, weshalb die Übersterblichkeit für das Jahr 2022 überschätzt sei. Dadurch sei die prozentuale Übersterblichkeit bei einzelnen Altersgruppen fragwürdig.
Mit einem eigenen Modell kommen Kauermann und De Nicola zu dem Ergebnis, dass es im Jahr 2022 zwar eine höhere Übersterblichkeit gegeben hat als in den Vorjahren, sie jedoch ebenfalls noch im natürlichen Schwankungsbereich lag - mit der Einschränkung, dass ihr Ansatz die Übersterblichkeit etwas unterschätzen könne. Für das Jahr 2020 kommen sie ähnlich wie Kuhbandner und Reitzner auf eine minimale Übersterblichkeit von 6317 Todesfällen (+1 Prozent), für 2021 auf 23.399 unerwartbare Todesfälle (+2,3 Prozent).
Korrelation mit Impfkampagne
Der Hauptkritikpunkt an der Interpretation der Studie ist jedoch ein anderer: Kuhbandner und Reitzner stellen die Hypothese auf, dass aufgrund der höheren Impfquote in den Jahren 2021 und 2022 die Übersterblichkeit eigentlich hätte zurückgehen müssen. Stattdessen zeigen sie anhand von zeitlicher Korrelation einen möglichen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Impfungen und der Übersterblichkeit auf. Oder wie "Report24" es zusammenfasst: "Die Zahl der Todesfälle explodierte in direktem zeitlichen Zusammenhang zu den Impfkampagnen."
"Was an dieser Studie so attraktiv ist, ist, dass sie die Leute halt bei so einem scheinbaren Widerspruch abholt", sagt Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Gesundheitszustand der Bevölkerung am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. "Wie kann es sein, dass die Impfung funktionieren, aber die Übersterblichkeit ständig ansteigt in Deutschland?" Das sei jedoch zu kurz gedacht. "Es wird immer suggeriert, dass der einzige Unterschied zwischen 2020, 2021 und 2022 die Impfung wäre. Das ist falsch."
So habe es im Verlauf der Pandemie immer wieder neue Virusvarianten gegeben, die deutlich ansteckender waren und zu deutlich mehr Impfdurchbrüchen führten. Auch das Verhalten der Bevölkerung sowie die Schutzmaßnahmen hätten sich im Laufe der Jahre verändert, sagt Schöley. Alles zusammen habe dazu geführt, dass die Zahl der Coronainfektionen deutlich höher waren als im ersten Pandemiejahr: Laut Robert Koch-Institut (RKI) wurden im Jahr 2020 1,78 Millionen Fälle gemeldet, im Jahr darauf bereits 5,44 Millionen und 2022 etwas mehr als 30 Millionen.
"Es gab wesentlich mehr Infektionsfälle"
"Wenn es um Übersterblichkeit geht, gibt es zwei Sachen, die maßgeblich sind: Wie viele Leute sind einem Risiko ausgesetzt und wie groß ist das Risiko?", sagt Schöley. "Zwar ist zum Beispiel durch die Corona-Impfungen für jeden einzelnen Infektionsfall das Sterberisiko gesunken. Aber es gab halt wesentlich mehr Infektionsfälle." Die Infektionszahlen werden in der Studie von Reitzner und Kuhbandner nicht berücksichtigt, sondern nur die Anzahl der gemeldeten Corona-Todesfälle.
Die beiden Autoren begründen das unter anderem mit Verweis auf eine Stellungnahme der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik mit dem "Fehlen verlässlicher Daten, anhand derer sich der Verlauf der Virusausbreitung und der Letalität der jeweiligen Virusvariante in Deutschland valide abschätzen ließe". Auf der Basis der vom RKI berichteten Zahlen zur Anzahl der Covid-Infektionen könnten aufgrund der fehlenden diagnostischen Qualitätsstandards "keine validen Schlüsse über den Verlauf der Virusausbreitung in der Bevölkerung gezogen werden".
Schöley sagt zwar auch, dass die Datenlage in Deutschland im internationalen Vergleich schlecht sei, jedoch sei beispielsweise durch Seroprävalenzstudien "durchaus robust" nachgewiesen, dass es im Jahr 2021 deutlich mehr Covid-Infektionen gegeben habe als im Vorjahr. Bei Seroprävalenzstudien wird ein repräsentativer Anteil der Bevölkerung auf Antikörper gegen das Coronavirus im Blut untersucht.
Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), sagt, dass es bei den erfassten Corona-Infektionen zwar immer eine Dunkelziffer gegeben habe, im Zeitverlauf jedoch Coronawellen mit Hilfe der Infektionszahlen recht deutlich zu erkennen sind, da in dieser Zeit die Zahl der positiven Tests innerhalb kürzester Zeit deutlich zunahm.
Andere Forschungsfelder besser geeignet
Dass die Corona-Impfung für die hohe Übersterblichkeit verantwortlich ist, ist nach Ansicht von Schöley aus mehreren Gründen unwahrscheinlich. Zum einen ließe sich das zeitliche Zusammenfallen von verabreichten Impfungen und Todesfällen vor allem durch hohes Infektionsgeschehen erklären. "Es wurde ja immer dann besonders Druck gemacht auf die Bevölkerung, sich zu impfen, wenn gerade die Zahlen besonders hoch waren." Bei Grippewellen würde auch kein Zusammenhang zwischen Grippeimpfung und -Toten hergestellt werden trotz zeitlicher Korrelation.
Zudem sei demografische Forschung mit Blick auf die Bewertung von Nutzen-Risiko-Faktoren von Impfungen nur wenig geeignet. "Letztendlich sind das nur lose Korrelationen", sagt Schöley. Um die möglichen Gefahren einer Impfung zu untersuchen, seien Studien notwendig, die beispielsweise die Sterberaten von geimpften Kohorten mit denen von ungeimpften Kohorten vergleichen. Nur solche Studien ließen kausale Schlüsse zu. Darauf weist auch Klüsener hin.
Und diese Studien sind aus Sicht der Experten eindeutig: So haben Geimpfte Studien zufolge ein bis zu 80 Prozent geringeres Sterberisiko im Alter bis 70 Jahre im Vergleich zu Ungeimpften. Schwere Nebenwirkungen einer Corona-Impfung hingegen kommen lediglich in 0,4 von 10.000 Fällen vor, Todesfälle noch seltener (0,1 pro 10.000 verabreichter Impfdosen).
Auch die Zahl der Totgeburtenquote ist nach Ansicht von Schöley kein Indiz für eine mögliche Gefahr der Corona-Impfungen. Denn diese stiegen in Deutschland bereits seit Jahren an, der Trend sei daher anhaltend und nicht neu, wie eine Untersuchung zeigt.
Kuhbandner und Reitzner teilen mit, dass die Schlussfolgerung, als einziger Faktor für die Übersterblichkeit käme die Impfkampagne infrage, könne "aus der von uns publizierten Studie definitiv nicht gezogen werden". Die Frage nach den Ursachen für die Übersterblichkeit sei nicht im Fokus der Studie. Allerdings stelle die Beobachtung eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen Impfung und unerwarteten Todesfällen ein Risikosignal dar, welchem unbedingt in detaillierteren Nachfolgestudien nachgegangen werden müsse.
Mögliche Erklärungen für Übersterblichkeit
Während die Übersterblichkeit einzelner Monate in den Jahren 2020 und 2021 nach Ansicht von Klüsener und Schöley ziemlich eindeutig auf die Corona-Toten zurückzuführen seien, gibt sich für 2022 ein anderes Bild. Für endgültige Gewissheit sorgt erst die Todesursachenstatistik von Destatis, die jedoch erst gegen Ende des Jahres veröffentlicht wird. Allerdings liegen die Daten von einzelnen Bundesländern, darunter bevölkerungsreiche wie Bayern und Baden-Württemberg, den Experten bereits vor.
"In den Zahlen für Baden-Württemberg ist zu erkennen, dass im Oktober drei Mal so viele Menschen an Corona verstorben sind wie im Vormonat", sagt Klüsener. Im Dezember wiederum sind doppelt so häufig Krankheiten des Atmungssystems als Todesursache verzeichnet worden als noch im November - darunter fällt zum Beispiel die Grippe. Auch bei den Krankheiten des Kreislaufsystems gab es im Dezember einen starken Anstieg - aus Sicht von Klüsener ebenso ein möglicher Hinweis auf zum Beispiel Folgen einer verschleppten Grippe.
"Es zeigt sich, dass die Vermutungen von mir und anderen Experten aus dem letzten Herbst, die auf Daten des Robert Koch-Instituts zur Zahl der Corona- und Grippeinfektionen beruhten, nun durch die ersten Daten aus der Todesursachenstatistik bestätigt werden", sagt Klüsener. Neben der Corona-Pandemie gehöre somit die Grippe zu den prägenden Faktoren für die Übersterblichkeit im Jahr 2022.