Afghanistan-Aufarbeitung Was der Bundeswehr-Abzug verändert hat
Vor einem Jahr haben die radikalislamischen Taliban die afghanische Stadt Kundus eingenommen, nachdem die Bundeswehr und internationale Truppen abgezogen waren. Die Abläufe werden untersucht - welche Lehren wurden bisher gezogen?
Was sind die Lehren aus Afghanistan? Wer Abgeordnete des Verteidigungsausschusses im Bundestag dazu befragt, bekommt vor allem drei Dinge zu hören: Erstens, künftig bitte mehr Abstimmung mit den Verbündeten. Zweitens: Mehr innerdeutsche Abstimmung, also zwischen den Ministerien Außen und Verteidigung plus Bundeswehr. Und drittens: Nie wieder ein so chaotischer Abzug wie der aus Afghanistan - einschließlich mangelhafter Sorge um die Ortskräfte, also um die Menschen, die im Land Hilfe und Mitarbeit für Bundeswehrkräfte geleistet haben.
Die Ausschuss-Vorsitzende Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP erinnert zum Jahrestag des Afghanistan-Abzugs daran, wie stark die Bundeswehr von Entscheidungen abhängig war, die in den USA getroffen wurden - und zwar schon vom Vorgänger des jetzigen Präsidenten Joe Biden, Donald Trump:
Wir haben in Afghanistan erlebt, dass Präsident Trump mit den Taliban verhandelt hat und ohne Bedingungen den Abzug verkündet hat, gewissermaßen Daten vorgegeben hat. Und die Bundesrepublik beziehungsweise das Auswärtige Amt, seinerzeit unter Heiko Maas, nicht intervenierte, also nicht etwa gesagt hat: "Moment mal, in der Geschwindigkeit können wir das gar nicht leisten." Also: Partnerschaft heißt, auch abzustimmen, ob man aus einem Mandat rausgeht, welche Folgen das hat, damit so etwas nicht wieder passiert.
"Die Situation vor Ort ist katastrophal"
Ein Untersuchungsausschuss soll nun klären, was genau in den Wochen vor dem Abzug passierte zwischen dem Auswärtigen Amt, dem Verteidigungsministerium und der Bundeswehr. Was ist mit Berichten, wonach Informationen über Details des Abzugs vernachlässigt wurden oder liegen blieben? Warum waren die Truppen anderer Länder offenbar besser organisiert? Zusätzlich soll eine Enquete-Kommission die Jahre der Militärpräsenz insgesamt auswerten.
Der CDU-Politiker Henning Otte, Vize-Vorsitzender im Verteidigungsausschuss, war selbst früher für die Bundeswehr in Afghanistan. Ein Jahr nach dem Abzug zieht er eine ernüchternde Bilanz:
Es ist deutlich geworden, dass die Situation vor Ort nicht zufriedenstellend, ja, katastrophal ist. Das zeigt aber auch: Solange die alliierten Kräfte, solange auch die Bundeswehr vor Ort im Einsatz waren, konnte ein Mindeststandard gehalten werden. Jetzt geht es darum, im Untersuchungsausschuss und in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages festzustellen: Was ist schiefgelaufen, was ist gut gelaufen, und was muss demnächst bei solchen Einsätzen besser gemacht werden?
"Man hat sich einer Illusion hingegeben"
Einer der Sachverständigen, die schon im September angehört werden sollen, ist Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er findet, Afghanistan sei mittlerweile fast verschwunden von der Bühne der großen Weltpolitik. Westliche Gesellschaften hätten sich zwar vorgenommen, Lehren aus ihrer Präsenz dort zu ziehen. Doch die Grundannahmen seien nicht immer tragfähig dafür:
In der langfristigen Perspektive hat man sich, glaube ich, einer Illusion hingegeben, dass der Westen die Fähigkeit hat, Afghanistan zu transformieren, also die afghanische Gesellschaft nach westlichen Standards zu transformieren. Und da hat man immer auf die Mädchenschulen verwiesen, auf die bessere Gesundheitsversorgung, und vieles andere mehr - aber auch das war eine Illusion. Denn wir haben ja gesehen, dass die afghanische Gesellschaft sich ja doch sehr einfach, so muss man das sagen, unter dem Regime der Taliban wieder eingefügt hat und gesellschaftlicher Widerstand in weiten Teilen ausgeblieben ist.
Mehr als 21.000 Ortskräfte erhielten Visa
Was die Ortskräfte betrifft, nennt das Auswärtige Amt aktuelle Zahlen: 21.500 von ihnen plus Familienangehörige bekamen Visa für Deutschland. 75 Prozent aller Ausreisewilligen und ihrer Angehörigen sind inzwischen hier - darunter auch solche, die auf der Menschenrechtsliste stehen, also als besonders gefährdet gelten.
Etwa 6000 Ortskräfte warten noch auf ihre Ausreise. Auf Wunsch werden sie dabei vom Auswärtigen Amt unterstützt. Dort heißt es, das Hauptproblem seien oft fehlende Pässe. Die Bundesregierung sei im Gespräch mit Pakistan und anderen Nachbarländern, um weitere Ausreiserouten für die Betroffenen zu öffnen.