Debatte über Flüchtlingsrückführung (Un)sicheres Afghanistan
Wie sicher ist Afghanistan? Um diese Frage dreht sich die Debatte um die mögliche Rückführung von Flüchtlingen. Verteidigungsministerin von der Leyen betont die Normalität in großen Städten. Der deutsche Botschafter in Kabul ist offenbar viel pessimistischer.
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen sieht in der Sicherheitslage in Afghanistan kein Hindernis für Abschiebungen. Es gebe etliche große Städte, wo sich trotz unbestreitbarer Risiken ein "weitgehend normales" Leben abspiele, sagte die CDU-Politikerin der "Bild". Daher solle es über eine Abschiebung von Asylbewerbern aus Afghanistan im Einzelfall entschieden werden. Gleichzeitig räumte sie allerdings ein, dass die Sicherheitslage dort nicht annähernd mit der in Europa vergleichbar sei.
Kann man das erwarten?
Zuvor hatte sich bereits Bundesinnenminister Thomas de Maizière - von der Leyens Amtsvorgänger - dafür ausgesprochen, mehr Afghanistan-Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken. Es sei "inakzeptabel", dass Afghanistan auf Platz zwei der Liste der Herkunftsländer stehe, sagte er Ende Oktober.
Das Land habe viel Entwicklungshilfe bekommen, so de Maizière weiter. "Da kann man auch erwarten, dass die Menschen dort bleiben." Der Abschiebe-Stopp für abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan sei nicht gerechtfertigt. Mit seinem Hinweis auf deutsche Entwicklungshilfe hatte der CDU-Politiker nicht nur bei Menschenrechtsgruppen, sondern auch beim Koalitionspartner SPD für Unmut gesorgt.
"Rückführmaßnahmen nach Afghanistan möglich"
Das SPD-geführte Außenministerium will Abschiebungen nach Afghanistan nicht ausschließen. Die Bundesregierung wolle "weiterhin daran arbeiten, dass Rückführmaßnahmen nach Afghanistan möglich sind", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Er reagierte damit offenbar auf einen "Spiegel"-Bericht, der aus einem internen Papier der deutschen Botschaft in Kabul zitiert hatte.
In der Lageeinschätzung, die dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, heißt es, Rückführungen von Afghanen seien wegen der schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan derzeit kaum möglich. Die Gefahr für Leib und Leben sei in jedem zweiten afghanischen Distrikt "hoch" oder "extrem". Selbst in Landesteilen, die bisher als relativ sicher galten, wachse die Bedrohung "rasant".
Pessimistisch liest sich auf die offizielle Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Dort heißt es: "Die afghanischen Sicherheitskräfte haben inzwischen nahezu landesweit die Sicherheitsverantwortung übernommen, haben die Lage jedoch bisher nicht überall unter Kontrolle bringen können." Dieser Umstand wird von einer Zahl der UN-Mission für Afghanistan (UNAMA) gestützt: Im ersten Halbjahr wurden fast 1600 Zivilisten getötet.
Bisher dürfen viele Afghanen bleiben
Nach Schätzungen von Behörden, Hilfs- und anderen Nichtregierungsorganisationen verlassen bis zu 100.000 Menschen Afghanistan - pro Monat. Die wenigsten davon kommen nach Deutschland, dennoch ist das Land am Hindukusch neben Syrien und Eritrea eines der drei Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen in Deutschland.
Die unmittelbare Anerkennungsquote von afghanischen Asylbewerbern in Deutschland liegt derzeit bei weniger als 50 Prozent. Dies heißt aber nicht, dass die Hälfte der Afghanen in ihre Heimat umgehend zurückgeschickt werden. Viele haben derzeit einen Duldungsstatus oder sich juristisch ein Bleiberecht erstritten. Laut der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl durften im ersten Halbjahr 76,4 Prozent der Schutzsuchenden aus Afghanistan in Deutschland bleiben.
Machtvakuum in den Provinzen
Nach Ansicht der ARD-Hörfunkkorrespondentin Sandra Petersmann ist die zerstrittene Zentralregierung in Kabul ein Grund für die schlechte Sicherheitslage. Symptomatisch sei, dass noch nicht einmal ein Verteidigungsminister benannt worden sei. In vielen Provinzen herrsche inzwischen ein Machtvakuum, das von Extremisten und Warlords ausgenutzt werde, sagte sie im Deutschlandfunk. Leidtragene seien stets Zivilisten.
Auch der Afghanistan-Aktivist Reinhard Erös beschreibt eine sich dramatisch verschlechternde Situation. "In Afghanistan kamen in den letzten Monaten mehr Zivilisten ums Leben als in den vergangenen 14 Jahren. In Afghanistan kamen doppelt so viele Polizisten in den letzten Monaten seit Jahresbeginn ums Leben als in den 14 Jahren vorher", so der ehemalige Bundeswehr-Arzt und Leiter der "Kinderhilfe Afghanistan" im Deutschlandfunk. Zwei Millionen Menschen säßen in Kabul und außerhalb auf gepackten Koffern, sagt Erös.