Interview zum Schutz vor Stress am Arbeitsplatz Burnoutfalle - viel Engagement, wenig Belohnung
Stress und Leistungsdruck nehmen zu - das hat die IG Metall in einer Studie festgestellt. Trotz des Aufschwungs hat sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt für viele Menschen verschlimmert. Die Arbeitsmedizinerin Gabriele Perger erläutert im tagesschau.de-Interview Gründe und Folgen.
tagesschau.de: Die IG Metall ist in ihrer Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass Stress und Leistungsdruck und damit berufsbedingte Krankheiten zugenommen haben - was sind die Gründe dafür?
Gabriele Perger: Zum einen hat der Arbeitsdruck zugenommen. Die Personaldecke wird dünner, immer weniger Leute müssen die gleiche Arbeit mit höherer Qualität in der gleichen Zeit oder schneller erledigen - das ist ein ganz entscheidender Punkt. Dazu kommt die Unsicherheit der Menschen: Behält man den Arbeitsplatz? Bleibt das Einkommen gleich?
Wenn Firmen zum Beispiel ihre Produktion umstellen müssen oder ganze Abteilungen outsourcen wollen, dann wird das häufig nicht offen für alle Mitarbeiter kommuniziert. So haben sie wenig Möglichkeiten, sich darauf einzustellen. Außerdem waren in den vergangenen Jahren mehr Frauen berufstätig als davor und laut Statistik erkranken Frauen häufiger an psychischen Krankheiten. Hier schlägt vor allem die Doppelbelastung zu Buche.
Prof. Dr. Gabriele Perger ist Arbeitsmedizinerin und Professorin für Arbeitswissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg im Bereich Gesundheitswissenschaften. Seit 2000 beschäftigt sie sich in Lehre und Forschung hauptsächlich mit psychischen Belastungen von Arbeitnehmern. Sie sitzt in der Jury der Hamburgischen Arbeitsgemeinschaft, die den Gesundheitspreis vergibt.
Stress kann zu Krebs und Alzheimer führen
tagesschau.de: Wie wirkt sich der zunehmende Druck aus – welche Krankheiten entstehen dadurch?
Perger: Modekrankheiten wie Burnout, das liest man ja derzeit überall. Ob das nun eine eigene Krankheit ist oder eine Erschöpfungsdepression, darüber kann man streiten. Burnout ist im Volksmund eine Folgekrankheit von Stress, der durch äußere Umstände bedingt ist. Viele ziehen den Begriff Burnout vor, weil Depression dagegen nach individuellem Versagen klingt.
Es gibt aber noch mehr Erkrankungen, die durch berufsbedingten Stress entstehen, weil das Immunsystem stark beeinträchtigt wird. Im Prinzip können alle Krankheiten durch Dauerstress verstärkt werden: Kopfschmerzen, Leistungsbeeinträchtigung, asthmatische Erkrankungen, Allergien, Magen-Darm-Erkrankungen oder Rückenschmerzen als Zeichen dafür, dass man vieles nicht mehr ertragen kann, Herz-Kreislauf-Krankheiten, bis hin zu Förderung von Krebserkrankungen. Selbst Alzheimererkrankungen werden mit Stress assoziiert.
Die Wissenschaft ist sich aber nicht ganz einig darüber, ob psychische Krankheiten wirklich so zugenommen haben, wie der Bericht der IG Metall das behauptet. Dahinter kann sich auch der Einfluss einer häufigeren Diagnosestellung verbergen. Ärzte stellen mittlerweile deutlich häufiger eine Diagnose über eine psychische Erkrankung, weil auch Patienten eher bereit sind zu sagen, dass sie nicht mehr können und bei der Arbeit zu viel Stress ausgesetzt sind. Gesellschaftlich sind psychische Krankheiten heute viel stärker anerkannt als früher, und deshalb schieben Patienten nicht mehr irgendein Magengeschwür oder Rückenschmerzen vor.
tagesschau.de: Kann man eingrenzen, welcher Parameter am ungesündesten ist? Und in welcher Branche kommt das am häufigsten vor?
Perger: Wenn man Untersuchungen anschaut, in denen Mitarbeiter zu ihrer Unzufriedenheit am Arbeitsplatz befragt wurden, wird in fast allen Fällen das Führungsverhalten als erstes genannt - es fehlt an Wertschätzung. An zweiter Stelle kommt Arbeitsverdichtung. Danach werden Punkte wie Kommunikation, schlechtes Betriebsklima und Mobbing genannt.
Betrachtet man die Gruppen, in denen psychische Belastungen besonders häufig vorkommen, sind als erstes Lehrer zu nennen. Sie haben das höchste Risiko für Erwerbsunfähigkeit. Lehrer stecken sehr viel Engagement in ihren Beruf, aber es kommt häufig nicht das heraus, was sie sich wünschen.
Auch das Pflegepersonal ist häufig von psychischen Belastungskrankheiten betroffen. Außerdem sind Berufe betroffen, die wenig körperlichen Ausgleich bieten.
"Manchmal hilft Sport mehr als eine Psychotherapie"
tagesschau.de: Welche Warnzeichen sollten Arbeitnehmer beachten? Woran erkennt man, dass man ein gesundheitliches Problem bekommen könnte?
Perger: Es gibt eine Vielzahl an Warnzeichen, die auf eine zu starke Belastung schließen lassen: Wenn man abends nach Hause kommt und zu nichts mehr Lust hat. Wenn man unruhig schläft oder wenn Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen eintreten, obwohl man normalerweise keine Probleme mit dem Rücken hat. Wenn man wenig Antrieb verspürt, alles nur noch nach Vorschrift macht, keine Freude mehr hat.
Wenn man keine Lust mehr hat, sich eine schöne Freizeitbeschäftigung zu gönnen, nur noch an die Arbeit denkt, dann ist es ernst. Der Betroffene sollte dann einerseits Entspannungsangebote nutzen und andererseits erkunden, was ihm Stress macht. Angebote zur Gesundheitsförderung in Unternehmen werden noch zu wenig angenommen, weil Mitarbeiter nicht wollen, dass Kollegen denken, sie hätten es nötig. Bewegung hilft natürlich immer dabei, Stress abzubauen. Manchmal sogar mehr als eine Psychotherapie.
tagesschau.de: In dem Bericht der IG Metall steht, dass der zunehmende Stress auch diejenigen betrifft, die keinen Job haben – wie wirkt sich das aus?
Perger: Nicht mehr gebraucht zu werden, keine Wertschätzung mehr von der Gesellschaft zu erfahren, das ist ein ganz großes Problem. Sich selber organisieren zu müssen, keinen regelmäßigen Tagesablauf und keine Strukturen mehr zu haben, das bringt Menschen aus dem Rhythmus. Als Folge sinkt die Motivation, etwas für sich zu tun. Dazu kommen existentielle Ängste. Die sind immer ein Auslöser für Stress.
tagesschau.de:. Wie hoch ist der volkswirtschaftliche Schaden durch arbeitsbedingte psychische Belastungen?
Perger: In Deutschland werden im Jahr fast 44 Milliarden Euro für arbeitsbedingte Erkrankungen und Frühverrentung ausgegeben. In Europa belaufen sich die Kosten nur für stressbedingte Krankheiten auf 20 Milliarden Euro, sagt die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit.
Wichtig gegen Stress: Freude an der Arbeit
tagesschau.de: Was kann getan werden, um die Situation zu verbessern?
Perger: Ich hoffe, dass das Problem wirklich ernst genommen wird. Es wird zwar viel darüber geredet, aber es gibt noch keine wirklich wirksamen Programme. Das liegt zum einen darin begründet, dass es sehr schwer ist, solche Programme zu entwickeln, da Menschen unterschiedlich auf Stress reagieren.
Unternehmen müssen die Menschen am Arbeitsplatz auffangen. Was am schnellsten umgesetzt werden könnte, ist die Wertschätzung: Mitarbeiter begrüßen, sich mit ihnen unterhalten, sie nach ihren Sorgen fragen, regelmäßige Strukturen dafür einführen und sie ernst nehmen. Und auch die Politik kann für bessere Strukturen sorgen, Gesundheitserziehung und lebenslanges Lernen schon in der Schule anlegen. Es darf nicht nur um stures Lernen gehen, sondern darum, die Fähigkeit zu entwickeln, sich Wissen anzueignen, sich mit anderen Menschen zu vernetzen, statt sich zurückzuziehen. Nur so können Menschen eine bessere Selbstwirksamkeit entwickeln und auf sich vertrauen. Kinder sind die Arbeitnehmer von morgen, deshalb sehe ich da dringenden Handlungsbedarf.
tagesschau.de:. Was können Firmen, die sich das nicht leisten können, jenseits von Gesundheitsprogrammen tun?
Perger: Jeder kann sich etwas leisten, was für die Gesundheit gut ist. Wenn ein Mitarbeiter wertgeschätzt wird und Motivation entfalten darf, wenn er Freiräume bekommt, dann wächst der Spaß an der Arbeit. Dann geht man nicht mit Bauchschmerzen zur Arbeit, sondern fühlt sich sicher.
Das Interview führte Marie Teresa Giese für tagesschau.de