Knapp 100 Tage Schwarz-Rot Die Baustellen der Großen Koalition

Stand: 19.03.2014 13:33 Uhr

Wochenlang war die Koalition vor allem mit Krisenbewältigung beschäftigt. Die innenpolitischen Streitthemen sind dabei auf der Strecke geblieben. Dabei ist die Liste der Baustellen der "GroKo" lang. tagesschau.de hat die wichtigsten Entwicklungen zusammengestellt.

Von Sandra Stalinski, tagesschau.de

Mindestlohn

Der öffentliche Schlagabtausch zwischen Union und SPD beim Thema Mindestlohn dürfte Geschichte sein. Nach einem Dreiertreffen der Parteichefs von CDU, CSU und SPD verkündete Sigmar Gabriel eine Einigung beim Mindestlohn. Kurz nachdem sie den Gesetzentwurf in die Ressortabstimmung gegeben hat, nannte Arbeitsministerin Andrea Nahles weitere Details. Es soll nur wenige Ausnahmen für junge Leute unter 18 Jahren und Ehrenamtliche geben. Außerdem sollen Langzeitarbeitslose für ein halbes Jahr vom Mindestlohn ausgenommen sein, wenn sie einen neuen Job annehmen. Für sie sollen Arbeitgeber Lohnkostenzuschüsse erhalten. Ausnahmen für einzelne Branchen soll es nicht geben. Weitere Details wollte die Ministerin mit Verweis auf die laufenden Abstimmungen zwischen den Ministerien nicht nennen. Das Kabinett solle am 2. April über den Gesetzentwurf beraten.

Im Koalitionsvertrag ist festgehalten, dass es ab Januar 2015 eine gesetzlich festgelegte Lohnuntergrenze von 8,50 Euro geben soll. Für Branchen, die bereits Tarifverträge mit niedrigeren Löhnen ausgehandelt haben, soll es eine Übergangsfrist geben. Spätestens ab 2017 soll der Mindestlohn dann flächendeckend und ohne Ausnahmen gelten.

Minderjährige unter 18 Jahren will Arbeitsministerin Andrea Nahles vom Mindestlohn ausnehmen, um zu verhindern, dass junge Menschen einen besser bezahlten Aushilfsjob annehmen, statt eine Ausbildung anzufangen. Außerdem sind laut Koalitionsvertrag Sonderregelungen für ehrenamtliche Beschäftigung und Saisonarbeit möglich. Die Koalition streitet über Ausnahmen beim Mindestlohn.

Trotzdem wurde die Union in den vergangenen Tagen und Wochen nicht müde, immer weitere Ausnahmen zu fordern: Für Studenten, Praktikanten ohne Berufsabschluss, Langzeitarbeitslose, Rentner, Minijobber und Beschäftigte in speziellen Wirtschaftsbereichen, wie beispielsweise Zeitungsausträger. Die Altersgrenze sollte bei mindestens 21 Jahren liegen.

Rente mit 63

Ein weiterer Zankapfel ist das zweite Großprojekt von Arbeitsministerin Nahles: Eine abschlagsfreie Rente ab 63 Jahren soll für Arbeitnehmer möglich sein, die 45 Jahre Beitragszahler waren. Umstritten ist dabei vor allem, wie viele Jahre Arbeitslosigkeit dafür angerechnet werden können. Im Gesetzentwurf, der dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt, ist dazu noch nichts festgelegt. Zu finden ist lediglich die Einschränkung, dass nur der Bezug von ALG I anerkannt wird, nicht aber Zeiten von Hartz IV oder Arbeitslosenhilfe.

Die Union allerdings hat Bauchschmerzen bei dem Gesetz und warnt vor einer Frühverrentungswelle. Denn Firmen könnten Arbeitnehmer dann möglicherweise schon mit 61 Jahren auf Kosten der Arbeitslosenversicherung entlassen, ohne dass diese Nachteile bei der Rente erleiden müssten. Fraktionschef Volker Kauder schlägt deshalb eine Stichtagsregelung vor: Es sollen nur Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet werden können, die vor dem 1. Juli 2014 liegen, und zwar maximal fünf Jahre. Damit sollen Missbrauchsmöglichkeiten zumindest eingegrenzt werden.

Und auch in der Regierung selbst scheinen sich Zweifel an Nahles' Prestigeprojekt zu mehren. Für die Zeit ab 2018 ist eine Prüfklausel im Gesetzentwurf eingefügt. Die neue Bundesregierung soll dann die Auswirkungen der Reform überprüfen, insbesondere die Frage, wie viele Menschen die Rente mit 63 in Anspruch genommen haben und wie sich die Anerkennung der Arbeitslosenzeiten auswirkt.

Energiewende

Die größte Baustelle der Koalition ist aber die Energiewende. Eine "Energiewende 2.0" hatte Wirtschaftsminister Gabriel großspurig angekündigt. Bis Anfang April laufen Beratungen mit Bundesländern und Verbänden, am 9. April soll das Kabinett die Ökostromreform beschließen, die am 1. August in Kraft treten soll. Eckpunkte für die Reform hat Gabriel bereits vorgelegt: Bei der Biomasse soll der Zubau gedeckelt werden, ebenso bei der Windkraft. An besonders guten Windkraftstandorten will Gabriel die Förderung um bis zu 20 Prozent senken.

Doch Gabriel schlägt heftiger Widerstand entgegen. Fast täglich gibt es neue Forderungen aus Politik und Wirtschaft, die Länder sehen ihre regionalen Interessen gefährdet. Die Frontlinie verläuft vor allem zwischen Nord- und Süddeutschland. Der Norden rebelliert gegen Einschnitte bei der Windkraft, Bayern stellt den Bau großer Stromtrassen in Frage.

Dass in dem Gezänk kaum einer mehr durchblickt, ist vor allem Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer geschuldet, der für seine abrupten Kurswechsel bekannt ist. Seine neueste Idee: Er will die Kosten der EEG-Umlage deckeln. Bei 8 Cent je Kilowattstunde soll Schluss sein, dann soll gar kein Fördergeld mehr fließen. Gabriel strebt eine Deckelung bei zwölf Cent je Kilowattstunde an. Seehofers Forderung könnte gerade den Ausbau der Windenergie gefährden, da unklar wäre, ob neue Anlagen noch gefördert würden. Der Appell der Kanzlerin, die Energiewende als nationale und nicht als regionale Aufgabe zu begreifen, scheint da ungehört zu verhallen.

Um bei der umstrittenen Reform auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, soll es Medienberichten zufolge einen informellen Energiegipfel geben. Merkel und Gabriel sollen die Ministerpräsidenten der Länder für den 1. April zu Gesprächen eingeladen haben. Laut "Süddeutscher Zeitung" soll das Treffen klären, ob angesichts der vielen Änderungswünsche der Länder eine schnelle Einigung bei der angestrebten Novelle des Gesetzes möglich sei.

Endlose Liste stockender Projekte

Es gibt eine Reihe weiterer Probleme, bei der die Regierung bisher keine einheitliche Position hat. Der Vorstoß einiger SPD-Länder zu mehr Ausnahmen bei der Doppelten Staatsbürgerschaft - entgegen dem Koalitionsvertrag - sorgte in der Union für Empörung. Die Regelung zum Gen-Mais ist umstritten. Von der PKW-Maut hört man nichts mehr, die Frauenquote verzögert sich. Die Liste der ungelösten Aufgaben ließe sich mühelos fortsetzen. Das sei jedoch nicht weiter verwunderlich, findet der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. CDU, CSU und SPD seien nunmal verschiedene Parteien, mit verschiedenen Interessen, die sich noch aneinander gewöhnen müssten. "Gerade die Themen Mindestlohn und Rente mit 63 sind identitätsstiftend für die Sozialdemokratie, weil es hier um soziale Gerechtigkeit geht. Die Union hingegen will traditionell die Kosten für Wirtschaft und Sozialversicherung niedrig halten."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 18. März 2014 um 15:30 Uhr.