Urteil zur Berlin-Wahl Zwischen Wahlkampf und Geschlossenheit
Die Parteien in Berlin bereiten sich schon auf den Wahlkampf vor. Für die Landesregierung ist es ein Balanceakt.
Ist das noch Parteitagsrhetorik oder schon Wahlkampf? "Wir machen keine Waschlappenpolitik", ruft Berlins Regierende Bürgermeistern Franziska Giffey ihren Genossinnen und Genossen beim Berliner SPD-Parteitag am vergangenen Wochenende zu, während die Fernsehkameras laufen. "Wir brauchen eine Verkehrswende, die auch funktioniert!", so die SPD-Politikerin.
Spätestens jetzt ist klar, wer sich angesprochen fühlen soll: Die Grünen-Spitzenfrau Bettina Jarasch, Berlins aktuelle Verkehrssenatorin, war vor einem guten Jahr Giffeys Konkurrentin um das Bürgermeisterinnenamt. Bald dürfte sie es wieder sein, ganz offiziell.
Heute will der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin eine Entscheidung zur Gültigkeit der Berlin-Wahl im September 2021 verkünden. Es geht um die Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen, und um die Frage ob und in welchem Umfang sie wiederholt werden müssen.
Wahlchaos mit Folgen
Der Berliner Wahltag am 26. September 2021 lief einmalig chaotisch. Vor Wahllokalen bildeten sich viel zu lange Schlangen, in einigen gab es zeitweise falsche oder teils gar keine Stimmzettel mehr. Der zeitgleich veranstaltete Berlin-Marathon erschwerte den Nachschub. In der Folge blieben mehrere Hundert Wahllokale bis deutlich nach 18 Uhr geöffnet, manche mussten tagsüber zeitweise schließen. Diese Pannen sind so schwerwiegend, dass sie die Zusammensetzung der Berliner Parlamente beeinflusst haben können, davon ist das Gericht seiner vorläufigen Einschätzung zufolge überzeugt.
Den Berliner Regierungsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ist anzumerken, dass dies keine normale Legislaturperiode ist. Nach einem Jahr gemeinsamer Regierung hat der Wahlkampf in den Augen vieler Beobachter schon längst wieder begonnen. Ein Streit um eine Einkaufsstraße - die vorübergehend und zum Teil vom Autoverkehr befreite Friedrichstraße - wuchs sich Ende Oktober zur Grundsatzdebatte zwischen den Spitzenkandidatinnen Giffey und Jarasch aus. Es ging um juristische und fachliche Kompetenzen, es wurde persönlich.
Angeschlagen und spendabel
Inzwischen zeigt sich aber: Die Berliner Koalition funktioniert auch jetzt, kurz vor dem Gerichtsentscheid, vielleicht sogar besonders gut - haben doch alle drei regierenden Parteien ein Interesse an guter Stimmung. Ein Berliner Finanzpaket zur Abfederung der derzeitigen Krisen haben die Koalitionäre am Wochenende um nochmals 400 Millionen Euro auf insgesamt drei Milliarden erweitert. Darin enthalten sind große Summen für Schulsanierung und Nahverkehr, in Berlin traditionell wichtige Wahlkampfthemen. Die Opposition stimmte geschlossen dagegen.
Der jüngste BerlinTrend von rbb24 Abendschau und "Berliner Morgenpost" vom September sieht weiterhin eine Mehrheit für die Regierungskoalition, aber unter deutlicher Führung der Grünen. Eine Prognose ist die Umfrage nicht, doch sie bestärkt neben den Grünen vor allem CDU und AfD. Beide Parteien hoffen, von einer möglichen Wiederholungswahl zu profitieren.
Giffey bliebe zunächst im Amt
Sollte die SPD nach einer Wahlwiederholung keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus mehr haben, ist offen, ob Giffey ihr Amt auf eigene Initiative abgeben würde - technisch bliebe sie zunächst im Amt. Laut Berlins Verfassung braucht sie als Regierende Bürgermeisterin aber das Vertrauen des Abgeordnetenhauses. Je nach Wahlergebnis könnte für die SPD auch eine Koalition mit CDU und FDP infrage kommen, die sie schon nach der letzten Wahl erwogen hatte.
Wahrscheinlich ist, dass sich mit einem Abtritt Giffeys auch die weitere Zusammensetzung des Senats verändern würde. Die Besetzung wichtiger Ämter geht maßgeblich auf die Regierende zurück. Der parteilose Wirtschaftssenator Stephan Schwarz hat im Interview mit dem Berliner "Tagesspiegel" schon angekündigt, einer Regierung unter anderer Führung nicht angehören zu wollen.
Weiterer Aufschub unwahrscheinlich
Wenn wieder gewählt wird, dann voraussichtlich am 12. Februar 2023. Höchstens 90 Tage beträgt die gesetzliche Frist zwischen Ungültigkeitsurteil und Wiederholungswahl. Den Termin könnte allenfalls das Bundesverfassungsgericht aufschieben, das ist aber äußerst unwahrscheinlich: Jemand direkt Betroffenes wie ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete müsste dort vorläufigen Rechtsschutz beantragen, Karlsruhe entsprechend entscheiden.
Aus juristischer Sicht wird das Urteil des Berliner Verfassungsgerichts ähnlich spannend wie für den Berliner Politikbetrieb. Noch nie gab es so eklatante Wahlprobleme, die eine Ungültigkeit derart wahrscheinlich gemacht haben wie jetzt. Das Versagen der Berliner Wahlorganisation dürfte historisch gewesen sein.