Abwanderung aus Ostdeutschland gestoppt Die Wende nach der Wende
Erstmals seit Langem ziehen wieder mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Berlin-Instituts. Aber nicht alle Regionen profitieren. Im Interview mit tagesschau.de nennt Demografie-Forscher Reiner Klingholz Gewinner und Verlierer.
tagesschau.de: Ostdeutschland ist zwischen 2008 und 2013 vom Ab- zum Zuwanderungsland geworden, aber das vor allem zugunsten der Städte. Für wen sind die ostdeutschen Städte besonders attraktiv?
Reiner Klingholz: Ostdeutschland musste sehr lange eine arbeitsmarktbedingte Abwanderung in Richtung Westen hinnehmen. Das ist vorbei. Inzwischen bleibt sogar ein leichter Zuwanderungsüberschuss im Osten, der sich allerdings auf nur 15 Prozent der Gemeinden konzentriert.
Wir sprechen von den neuen Leuchttürmen im Osten, die nicht nur für Studierende oder Jobsuchende attraktiv sind, sondern für Menschen aller Altersgruppen und aller Bevölkerungsschichten. Neben Berlin sind das Leipzig, Dresden oder Erfurt. Die vielbeschworenen blühenden Landschaften existieren also, aber eben in den Städten.
Nach dem Chemie-Studium promovierte Klingholz über makromolekulare DNS-Strukturen. Er war Wissenschaftsredakteur bei der "Zeit" und Leiter von "Geo Wissen". Klingholz gewann unter anderem zweimal den Journalistenpreis Entwicklungspolitik des Bundespräsidenten sowie den Buchpreis der Deutschen Umweltstiftung.
Dass die Städte sich herausgeputzt haben, zahlt sich aus
tagesschau.de: Wie nachhaltig ist der Trend zur Zuwanderung, wenn er sich hauptsächlich auf einige Städte konzentriert?
Klingholz: Selbst wenn zurzeit nur ein kleiner Anteil der Gemeinden profitiert, handelt es sich trotzdem um einen Riesenfortschritt. Es gab Zeiten, in denen mussten wir in praktisch allen ostdeutschen Gemeinden Abwanderung verzeichnen.
Auch heute ist es noch so, dass fast überall im Osten die Bevölkerung insgesamt schrumpft, zum einen, weil Menschen abwandern, zum anderen, weil mehr Menschen sterben als geboren werden.
tagesschau.de: Inwieweit verändert das Plus an Zuwanderung die Städte?
Klingholz: Vor allem haben sich die Städte verändert, was die Zuwanderung überhaupt ermöglicht hat. Wir sehen jetzt die Effekte der Städtebauförderung und des Aufbaus Ost, nicht zuletzt in Form von neuen Arbeitsplätzen. Dass sich die Städte im Osten wieder herausgeputzt haben, zahlt sich jetzt aus. Diese Entwicklung lässt sich übrigens auch im Westen verfolgen. Auch dort sahen während 1970er- und 1980er-Jahre die Städte zum Teil grauenvoll aus.
Strukturwandel lässt sich nicht umkehren
tagesschau.de: Warum hat der ländliche Raum den Abwanderungstrend nicht stoppen können?
Klingholz: Es fehlt nach wie vor an Arbeitsplätzen. In unserer heutigen Wissensgesellschaft entstehen Arbeitsplätze dort, wo sich ein Mindestmaß an Unternehmen, Forschungseinrichtungen und klugen Köpfen zusammenfindet. Für dieses Mindestmaß, diese kritische Masse, braucht es ein paar Leute, die aus Produkten neue Ideen und neue Dienstleistungen entwickeln, woraus dann neue Jobs entstehen.
Das passiert im ländlichen Raum aber sehr selten. Ein solcher Strukturwandel, den man weltweit beobachten kann, lässt sich auch mit sehr viel Geld nur etwas verlangsamen, aber nicht aufhalten, geschweige denn umkehren.
Ältere waren die ersten, die den Trend umgekehrt haben
tagesschau.de: Welche Faktoren entscheiden darüber, ob Menschen in die Stadt oder aufs Land ziehen?
Klingholz: Menschen ziehen um, wenn sich ihre Lebensumstände ändern. Der Bildungswanderer zum Beispiel sucht einen Ausbildungs- oder Studienplatz, der Berufswanderer einen Job. Beides ist eher in den Städten gegeben.
Familienwanderer sind die einzige Gruppe, für die der ländliche Raum mindestens ebenso attraktiv ist wie die Stadt. Nach wie vor steht das Haus im Grünen mit viel Platz und geringen Kosten hoch im Kurs. Wenn die Kinder aber aus dem Haus sind, suchen auch diese Menschen wieder den Weg zurück in die Stadt.
Das tun auch die Ruhestandswanderer, weil sie in der Stadt die besseren Versorgungsmöglichkeiten vorfinden. Dabei waren die Ruhestandswanderer die ersten, die den Trend von Ost nach West umgekehrt haben und in den Osten gezogen sind, unter anderem, weil ihnen der Westen zu teuer wurde.
Ältere Menschen schaffen Jobs
tagesschau.de: Wie schätzen die politisch Verantwortlichen, also zum Beispiel die Bürgermeister, die Lage ein?
Klingholz: Die meisten schätzen ihre Situation und auch ihre Hilflosigkeit realistisch ein, wenn es darum geht, die Jungen halten zu wollen. Dieses Unterfangen ist ziemlich aussichtslos.
Gemeinsam ist allen, dass sie versuchen, Familien anzuziehen. Familien als Einwohner haben viele Vorteile: Es handelt sich um mehrere Personen, die Steuern und Gebühren zahlen und die aller Voraussicht nach eine Weile bleiben. Oft genug fehlt es aber an Angeboten für Familien wie Kitas oder Schulen.
Was bislang unberücksichtigt bleibt: Viele Ältere werden in Zukunft umziehen wollen, weil sie eine bessere Versorgung suchen, aber auch, weil diese Gruppe immer größer wird, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Dieses Potenzial gilt es zu heben.
Viele Gemeinden befürchten immer noch, dass durch mehr Ältere die Jungen und die Familien verprellt werden. Das ist aber falsch. Ältere stabilisieren das Umfeld, bringen Kaufkraft und benötigen Dienstleistungen - sie schaffen Jobs.
Erste Hausaufgabe: Zielgruppe analysieren
tagesschau.de: Was kann eine Stadt, eine Gemeinde, tun, um ihre Chance auf Zuzug zu erhöhen?
Klingholz: Indem sie analysiert, wie ihre Zielgruppe aussieht. Das können die Jungen sein, das können die Älteren sein oder eben auch Junge und Ältere. Darum muss man sich kümmern. Es macht wenig Sinn, sich um eine Gruppe zu kümmern, für die man nicht attraktiv ist.
Zweite Hausaufgabe: Zeitfenster nutzen
tagesschau.de: Mit welchen Veränderungen rechnen Sie durch die vielen Flüchtlingen, die inzwischen nach Deutschland gekommen sind und noch kommen werden?
Klingholz: Flüchtlinge werden nach dem Königssteiner Schlüssel über das Land verteilt. Also kommen auch Flüchtlinge in ostdeutsche Regionen, wo sie die Bevölkerungsstatistik zum Teil erheblich aufwerten werden.
Wie lange diese Menschen dort bleiben, lässt sich noch nicht sagen. Wenn ihrer Verfahren abgeschlossen sind, ist damit zu rechnen, dass sie sich eher Richtung Stadt und Richtung Westen orientieren. Dort finden sie Menschen derselben Nationalität und treffen auf entsprechende Netzwerke.
Also müssen die Gemeinden, die mit Bevölkerungsschwund zu kämpfen haben, das Zeitfenster jetzt versuchen zu nutzen, um einige der Neuankömmlinge zu halten. Zwei Kinder mehr oder weniger können darüber entscheiden, ob eine Schule geschlossen wird oder nicht.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de