Abgeordnete im Plenarsaal
Analyse

Wahlrechtsreform Viel Lärm um wenig

Stand: 13.08.2021 14:58 Uhr

Die Opposition ist mit ihrem Eilantrag in Karlsruhe bei der Wahlrechtsreform gescheitert. Aber für diese Wahl ändert sich ohnehin wenig. Entscheidender wird die Prüfung danach.

Eine Analyse von Corinna Emundts, ARD-aktuell und Björn Dake, ARD Berlin

Trotz der von Union und SPD vor knapp einem Jahr durchgesetzten Wahlrechtsreform und ihrer vorläufigen Bestätigung durch die heutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass sie anwendbar ist: Der nächste Bundestag könnte so groß werden wie niemals zuvor. Denn die im Oktober 2020 von den Regierungsparteien angeschobene Reform verdient diesen Namen eigentlich nicht, eher den Titel "Reförmchen"- sie war nach langer Uneinigkeit der beiden Koalitionspartner zu einem Minimalstkompromiss geworden. Das Ziel, das grundsätzliche XXL-Problem des Bundestages wirklich zu beheben, wurde damals nach einhelliger Meinung von Wahlrechtsexperten verfehlt.

"Es kann durchaus passieren, dass der nächste Bundestag in keinem Fall kleiner wird - und das ist nicht einmal unwahrscheinlich“, sagt der Politologe Uwe Jun gegenüber tagesschau.de. Auch die Karlsruher Richter verweisen in der aktuellen Einschätzung auf ihre Modellrechnung, dass sich die Zahl der Sitze mit der beschlossenen Reform angewandt auf das Bundestagswahlergebnis vom Jahr 2017 nur um 23 Plätze verringert hätte.

Für die bevorstehende Bundestagswahl bleibt letztlich alles im Konjunktiv. "Eine Zunahme der Sitze des Deutschen Bundestages bis hin zu seiner tatsächlichen Funktionsunfähigkeit ist jedenfalls wenig wahrscheinlich", befindet das Gericht mit seiner Entscheidung heute. Wirklich prognostizieren lässt sich die Größe des neuen Parlaments nicht - sondern seriös und verlässlich erst mit dem Wahlergebnis errechnen. Insbesondere haben erfahrungsgemäß die dann erreichten Direktmandate der bisher stimmen- und umfragemäßig größten Partei CDU einen Einfluss auf die Zahl der Bundestagsmandate.

Überhangmandate weiterhin ein Problem

Schuld daran ist weiterhin die komplizierte Regelung der Überhang- und Ausgleichsmandate, die häufig zu einer Vergrößerung des Parlaments geführt hat. Überhangmandate werden vergeben, wenn eine Partei mehr Direktmandate durch Erststimmen erringt, als ihr gemäß dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Davon hatte in der Vergangenheit vor allem die Union profitiert.

Denn Überhangmandate müssen durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Das hat dazu geführt, dass die Zahl der Abgeordneten im Bundestag noch stärker gestiegen ist - zuletzt im Jahr 2017 von der Mindestgröße 598 auf 709 Sitze. Bei dieser Wahl sollen nun bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden, wenn die Regelgröße des Bundestags von 598 Abgeordneten überschritten wird.

Auch nach der Wahlrechtsreform könnte das Ziel aber auch diesmal durchaus verfehlt werden, Mandate zu verringern. Im Gegenteil: Experten mutmaßen, dass auch nach dieser Bundestagswahl möglicherweise erneut mehr Sitze im Parlament eingebaut werden müssen: Wahlrechtsexperte Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung etwa geht davon aus, dass im Extremfall bis zu 1000 Abgeordnete ins nächste Parlament einziehen könnten. Das sei aber schwer vorauszusagen und hänge von verschiedenen Variablen ab, sagt der Leiter des Programms "Zukunft der Demokratie“.

Opposition bleibt optimistisch

Und auch das Verfassungsgericht deutet bereits offene Fragen und rechtliche Zweifel an. Deswegen wird in der FDP-Fraktion nun trotz dieser ersten schnellen Niederlage durchaus zufrieden angemerkt, dass das Gericht die Argumente der Antragsteller gut nachvollziehen könne: "Mal sehen, was die Hauptsacheentscheidung bringt", heißt es dort durchaus optimistisch. Denn verloren ist erst mal nur ein Eilantrag - die Prüfung einer umfassenden Normenkontrollklage der drei Oppositionsparteien FDP, Linkspartei und Grüne steht noch aus. Ob das neue Wahlrecht vor dem Verfassungsgericht besteht, entscheiden die Karlsruher Richter erst später. Heute ging es erstmal nur darum, ob die neuen Regeln bei der Wahl Ende September angewendet werden können. Für Wählerinnen und Wähler ändert sich dadurch nichts. Die Regeln wirken sich nur darauf aus, wie Stimmen in Mandate umgerechnet werden.

"Es bleibt dabei: Teile des neuen Wahlrechts sind verfassungswidrig", twitterte FDP-Fraktionsgeschäftsführer Marco Buschmann als Reaktion auf die Karlsruher Entscheidung. Allein der Zusammenschluss in dieser Sache der drei ansonsten höchst unterschiedlichen bis hin zu inhaltlich konträren Oppositionsparteien zeigt, um was es geht: Die Kleineren befürchten einen Vorteil für größere Parteien, was die schlussendliche Anzahl der Bundestagsmandate gemäß der derzeit geltenden Wahlrechtsreform angeht. Da das Wahlrecht Gewinnern von Direktmandaten einen Sitz garantiert, kommt es immer wieder zu Überhangmandaten, wenn eine Partei über die Wahlkreise bereits mehr Sitze gewinnt als sie gemäß ihrem Zweitstimmenanteil haben dürfte. Diese Verzerrung des Wählerwillens wird durch Ausgleichsmandate für andere Parteien kompensiert. Wenn nun gemäß der GroKo-Reform bis zu drei Überhangmandate für andere Parteien nicht mehr ausgeglichen werden müssen - profitiert die Partei überdurchschnittlich, welche die meisten Wahlkreise gewinnt - nach bisherigem Stand die Union.

"Überhangmandate nicht mehr zeitgemäß"

Große Parteien würden klar bevorzugt, kritisierte demnach der Linken-Abgeordnete Friedrich Straetmanns in der Bundestagsdebatte. Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann warf der Koalition Täuschung der Wählerschaft vor: es sei wahrscheinlich, dass "denn es ist wahrscheinlich, dass mit diesem Kompromiss der kommende Bundestag sogar weiter anwachsen wird". Nach Modellrechnungen der Grünen könnte der Bundestag damit auf bis zu 798 Mandate angewachsen - Wahlumfrageergebnisse aus 2020 zugrundegelegt. Auch für den FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle gibt die Reform keine Antwort auf das drängende Problem eines XXL-Bundestags. Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor wies das hingegen in der Bundestagsdebatte im vergangenen Oktober zurück. Die Koalition habe ein "ein faires und ein verfassungskonformes Modell" gefunden.

Ganz anders sieht das Wahlrechtsexperte Vehrkamp: Überhangmandate hätten in einem Viel-Parteien-System nichts mehr zu suchen. Sie könnten Mehrheiten verzerren und im Extremfall regierungsfähige Mehrheiten verhindern. Dazu brauche es ein Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts zum Wahlrecht.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 13. August 2021 um 14:00 Uhr.