In leeres Klassenzimmer in einer Grundschule in Essen.

Gutachten der Leopoldina Schrittweise Schulöffnung gefordert

Stand: 13.04.2020 12:58 Uhr

Die Nationale Akademie der Wissenschaften hat ihre Empfehlungen für eine schrittweise Rückkehr zur Normalität vorgelegt: Grundschulen sollen eingeschränkt wieder starten und Masken im Nahverkehr Pflicht werden.

Wie soll die Rückkehr zur Normalität nach dem Coronavirus-Ausbruch gestaltet werden? Sicher ist: Der Alltag hierzulande wird sich nicht von heute auf morgen wieder einstellen. Angesichts des Ausmaßes der Pandemie kann es nur schrittweise Lösungen geben - das haben Politikerinnen und Politiker in den vergangenen Tagen deutlich gemacht.

Am Mittwoch will Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Telefonkonferenz mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder über das weitere Vorgehen beraten. Dann soll auch entschieden werden, ob die Kontakteinschränkungen gelockert werden können. Merkel hat erklärt, ein wichtiger Anhaltspunkt werde ein Gutachten der Akademie der Wissenschaften Leopoldina sein.

Grundschüler zuerst

Der Bericht der Forscher ist bereits veröffentlicht. Unter anderem spricht sich die Leopoldina für eine schrittweise Öffnung der Schulen aus - und zwar "so bald wie möglich" und nach Jahrgangsstufen differenziert. Zuerst sollten die Grundschulen und die Sekundarstufe I schrittweise wieder geöffnet werden, schreiben die Wissenschaftler. Zur Sekundarstufe I gehören etwa Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen bis Klasse 10 sowie Gymnasien bis einschließlich der Klassen 9 beziehungsweise 10.

Begonnen werden solle mit der Jahrgangsstufe 4, also den Abschlussklassen, um den Übergang auf die weiterführenden Schulen zu gewährleisten. Um das Abstandsgebot zu wahren, solle der Unterricht sich auf Schwerpunktfächer wie Mathe und Deutsch konzentrieren und in deutlich reduzierten Gruppengrößen von 15 Schülerinnen und Schülern begonnen werden.

Die Möglichkeiten des Fernunterrichts "können mit zunehmendem Alter besser genutzt werden", so die Forscher. "Deshalb ist zu empfehlen, dass eine Rückkehr zum gewohnten Unterricht in höheren Stufen des Bildungssystems später erfolgen sollte." An den Universitäten und Hochschulen solle das Sommersemester weitgehend als Online/Home-Learning-Semester zu Ende geführt werden.

Der Betrieb von Kitas sollte "nur sehr eingeschränkt wiederaufgenommen werden". Da kleinere Kinder sich nicht an die Distanzregeln hielten, aber Überträger seien, sollten Kitas für die jüngeren Jahrgänge bis zu den Sommerferien weiterhin im Notbetrieb bleiben.

Maskenpflicht in Bus und Bahn

Zudem sprechen sich die Wissenschaftler für eine Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr aus - und darüber hinaus. "Jeder Bürger sollte solch einen Mund-Nase-Schutz künftig bei sich tragen und wo immer der Mindestabstand nicht eingehalten wird, auch anziehen", sagte der Präsident der Leopoldina, Gerald Haug, dem "Spiegel". Das gelte im Supermarkt, auf dem Amt und auch bei der Arbeit.

Gesellschaftliche, kulturelle und sportliche Veranstaltungen sollten "in Abhängigkeit von der möglichen räumlichen Distanz und den Kontaktintensitäten der Beteiligten (...) nach und nach wieder ermöglicht werden", empfahlen die Forscher weiter. Sie nennen drei Punkte als Voraussetzung für eine Normalisierung des öffentlichen Lebens:

  • Neuinfektionen stabilisieren sich auf niedrigem Niveau
  • Es werden notwendige klinische Reservekapazitäten aufgebaut und die Versorgung der anderen Patienten wieder regulär aufgenommen
  • Die bekannten Schutzmaßnahmen (Hygienestandards, Mund-Nasen-Schutz, Distanzregeln, Identifiktation von Infizierten) werden eingehalten

Wirtschaftspolitische Maßnahmen zurückfahren

Die Experten rufen zudem dazu auf, an der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung festzuhalten. So sei an der Schuldenbremse im Rahmen ihrer derzeit geltenden Regeln festzuhalten. Dies erlaube gerade in so besonderen Zeiten wie der Corona-Krise eine deutlich höhere Verschuldung, verlange aber bei der Rückkehr zur Normalität wieder deren Rückführung.

Allgemein heißt es in diesem Zusammenhang, die in der Krise getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen müssten so bald wie möglich zugunsten eines nachhaltigen Wirtschaftens im Rahmen einer freiheitlichen Marktordnung rückgeführt oder angepasst werden.

App für die Bewegungsverfolgung

Wichtig für die Eindämmung der Pandemie sei auch eine verlässliche Datengrundlage. Die Forscher verweisen dabei auf die Nutzung von GPS-Daten in Kombination mit Tracing-Apps wie etwa in Südkorea. Die Nutzung von Apps müsse aber freiwillig geschehen und die Daten müssten nach einem vorher definierten Zeitraum wieder gelöscht werden, sagte Haug. "Diese App ist entscheidend, um eine differenzierte Nachverfolgung und Vorhersage des Pandemieverlaufs zu ermöglichen."

Abgestimmtes Vorgehen gefordert

Die Debatte um eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Krise dauert seit Tagen an. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer fordert dabei bundesweit ein abgestimmtes Vorgehen. "Es ist wichtig, dass wir möglichst einheitliche Regelungen haben", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit Blick auf das Treffen am Mittwoch. Es gebe auch innerhalb der Ministerpräsidentenkonferenz die feste Vereinbarung, mit der Bundesregierung ein "gutes Gesamtpaket" vorstellen zu können.

Ähnlich äußerte sich auch der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans.

"Bremsung muss aufrechterhalten werden"

Nach Überzeugung des Kieler Virologen Helmut Fickenscher gibt es für eine Entwarnung bisher keinen Grund. "Würde man die Schutzmaßnahmen aufheben, hätten wir höchstwahrscheinlich in kurzer Zeit volle Krankenhäuser", sagte der Leiter des Instituts für Infektionsmedizin der Universität Kiel der dpa.

Dann könnten wegen Überlastung nicht einmal mehr simple Unfälle angemessen behandelt werden. "Die Bremsung muss aufrechterhalten werden", sagte Fickenscher, der auch Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten ist. Dass die Zahl der Infektionen nicht mehr so stark steigt, sei schlicht die Folge der strengen Schutzmaßnahmen.

Gebäude der Leopoldina in Halle
Leopoldina

Die Leopoldina ist eine der weltweit ältesten naturwissenschaftlichen Gelehrtengesellschaften und seit 2008 die Nationale Akademie der Wissenschaften Deutschlands. Unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen berät sie Entscheidungsträger über gesellschaftlich relevante Themen.

1652 in Schweinfurt als "Academia Naturae Curiosorum" gegründet, erhielt sie ihren heutigen Namen von Kaiser Leopold I., der sie 1687 zur Reichsakademie erhob. Seit 1878 hat sie ihren Sitz in Halle.

Die derzeit mehr als 1500 Mitglieder sind wegen ihrer herausragenden wissenschaftlichen Leistungen in die Leopoldina gewählt worden. In der Vergangenheit waren das Forscher wie Albert Einstein, Marie Curie, Charles Darwin, Max Planck und Niels Bohr.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 13. April 2020 um 12:40 Uhr.