Virologe Drosten in den tagesthemen "Das Virus ist nicht absolut harmlos geworden"
Hunderttausende neue Corona-Fälle täglich - und die Politik beschließt Lockerungen. Ist das vertretbar? Ja, sagt der Virologe Drosten im tagesthemen-Interview. Es sei aber wichtig, wachsam zu bleiben und bei Bedarf nachzusteuern.
Der Virologe Christian Drosten hat angesichts der weitreichenden Corona-Lockerungen vor zu großer Sorglosigkeit gewarnt. Zwar habe sich die Situation durch die Omikron-Variante und den ansteigenden Impfschutz entschärft. Man dürfe die Situation aber nicht einfach laufen lassen, sagte der Leiter der Virologie an der Berliner Charité im tagesthemen-Interview. "Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man das jetzt nicht versteht als ein unreflektiertes Öffnen und Nicht-mehr-darüber-Nachdenken, sondern man muss dieses Geschehen genau beobachten. Das Virus ist nicht absolut harmlos geworden."
Nach Einschätzung von Drosten sind Lockerungen in der jetzigen Pandemie-Situation grundsätzlich vertretbar. "Natürlich haben sich die Grundgegebenheiten verändert und natürlich gibt es auch Gründe dafür, dass man jetzt eben Maßnahmen lockert." Der Blick in die Nachbarländer zeige aber auch, dass Lockerungen trotz der Impfungen und trotz der Omikron-Variante erneut zu einem Anstieg der Hospitalisierung führen könnten. Als Beispiele nannte er Großbritannien und Dänemark. Deshalb sei es wichtig, die Entwicklung genau zu beobachten, so Drosten. "Und wir müssen natürlich gegebenenfalls dann auch nachsteuern."
"Wir werden diese hohen Zahlen erstmal behalten"
Drosten wies darauf hin, dass insbesondere für ältere Menschen weiterhin ein hohes Risiko bestehe: "Wir sehen jetzt, dass sich die älteren Leute, die über 65-, 70-Jährigen, doch verstärkt infizieren. Und da sind eben die Krankenhausaufnahmen versteckt in den Bevölkerungen, auch bei Omikron. Wir haben gerade in dieser Altersgruppe schlecht geimpft, immer noch." Zum nächsten Herbst hin müsse man wieder damit beginnen, zunächst die ältere Bevölkerung nachzuimpfen.
Drosten hält einen schnellen Rückgang der derzeit hohen Fallzahlen für unwahrscheinlich. "Jetzt für die allernächste Zeit ist es sicherlich so, dass wir diese hohen Zahlen in Deutschland erstmal behalten werden", sagte er. Im Moment sei das höchste Infektionsgeschehen bei Kindern im Schulalter zu beobachten - die Osterferien könnten deshalb etwas Beruhigung bringen.
"Im Winter dann auch wieder härter durchgreifen"
Zum Sommer hin werde es wärmer. "Dann wird das Geschehen abgemildert sein. Aber es wird auch nicht komplett stoppen wie im letzten Jahr. Das ist meine Voraussage." Mit den richtigen Maßnahmen lasse sich das Infektionsgeschehen im Sommer jedoch kontrollieren: "Wenn wir da zum Beispiel in Innenräumen Maske tragen, dann kann man das Geschehen so moderieren, dass es nicht außer Kontrolle kommt."
Pessimistischer blickt Drosten auf den kommenden Winter: "Da muss man dann auch wieder härter durchgreifen, würde ich jetzt erwarten." Auch wenn die durchschnittlichen Patienten durch Omikron mildere Symptome hätten, sei bei steigenden Fallzahlen mit deutlichen Einschränkungen für das gesellschaftliche Leben zu rechnen.
Maskenpflicht gegebenenfalls wieder verschärfen
Grundsätzlich sei der weitere Pandemie-Verlauf nicht zu prognostizieren, so Drosten. Das Virus werde sich weiter verändern. "Wir wissen im Moment noch nicht genau, ob es dann ein Omikron-Nachfolger sein wird oder ob es dann wieder ein Virus ist, das aus einer älteren, ursprünglichen Diversität kommt. Und davon muss man auch ein bisschen abhängig machen, wie man mit der Impfung weiter umgeht. Es gibt angepasste Omikron-spezifische Impfstoffe, aber wir wissen im Moment noch nicht genau, ob überhaupt im nächsten Winter ein Omikron-artiges Virus zirkuliert oder ein anderes." Die Evolution des Virus lasse sich nicht voraussagen.
Drosten sagte, die sehr ansteckende Omikron-Variante habe "die Karten neu gemischt". "Wir können von der Impfung jetzt nicht mehr erwarten, dass sie uns gegen die Übertragung schützt, schon gar nicht im nächsten Winter." Sie schütze zwar weiterhin sehr gut gegen schwere Erkrankung oder Tod. "Also je mehr auf dem Spiel steht gesundheitlich, desto mehr schützt die Impfung. Aber sich überhaupt zu infizieren oder das Virus zu übertragen - dagegen schützt sie bei Omikron jetzt deutlich schlechter. Und damit müssen wir jetzt leben." Es sei deshalb wichtig, Maßnahmen wie die Maskenpflicht bei Bedarf wieder verschärfen zu können.