Beschluss zum EU-Haftbefehl Wer bestimmt über den Grundrechtsschutz?
Das Bundesverfassungsgericht hat wegen grundsätzlicher Bedenken die Auslieferung eines zu 30 Jahren Haft verurteilten Mannes nach Italien gestoppt. Der Beschluss birgt juristischen Konfliktstoff in sich: Hätte das Gericht den Fall beim EuGH vorlegen müssen?
Um welchen Fall geht es?
Der Kläger ist US-Bürger. Er wurde 1992 in Italien wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Drogendelikten zu 20 Jahren Haft verurteilt - in Abwesenheit. Er war also beim Prozess nicht dabei und hat auch nichts von seiner Verurteilung erfahren. Italien hatte einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt, auf dessen Basis der Mann 2014 in Deutschland festgenommen wurde. Der Europäische Haftbefehl ermöglicht eine Art vereinfachte Auslieferung von Straftätern zwischen EU-Staaten. Er basiert auf einem "Rahmenbeschluss" der EU, den die Staaten in nationales Recht umsetzen. Im Auslieferungsverfahren hat der Kläger geltend gemacht: Nach italienischem Recht kann ich vor Ort zwar in Berufung gehen. Aber es wird wohl keine neue Beweisaufnahme geben, das sei nach einem Urteil in Abwesenheit nicht vorgesehen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte die Auslieferung aber für zulässig erklärt. Gegen diesen Auslieferungsbeschluss klagte der Verurteilte nun in Karlsruhe. Mit Erfolg.
Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden?
Das Bundesverfassungsgericht hat den Auslieferungsbeschluss aufgehoben und den Fall ans OLG Düsseldorf zurückverwiesen, das den Fall nun erneut prüfen muss. Das Gericht habe zentrale Grundrechte des Mannes nicht beachtet, so die Begründung. Es hätte viel intensiver prüfen müssen, ob der Beschuldigte in Italien die realistische Möglichkeit hätte, das in Abwesenheit ergangene Urteil nochmal überprüfen zu lassen. An diesem zentralen Punkt gebe es berechtigte Zweifel.
Im Leitsatz des Gerichts klingt das wörtlich so:
Die deutsche Hoheitsgewalt darf die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen."
Eine Auslieferung nach EU-Haftbefehl ist also nicht möglich, wenn ein Verstoß gegen die Menschenwürde und rechtsstaatliche Grundsätze zu befürchten ist. Schon das ist eine wichtige rechtliche Botschaft des Beschlusses. Aber bei weitem nicht die einzige.
Was ist das Besondere an diesem Fall, also die "Ebene dahinter"?
Nun könnte man sagen: Karlsruhe schützt Grundrechte - das ist doch der Job des Gerichts. Der Nachrichtenwert liegt aber schon in folgender Feststellung: Karlsruhe prüft und entscheidet diesen Fall! Weil es (zumindest indirekt) um EU-Recht geht, ist das keinesfalls selbstverständlich. Denn das Gericht hätte auch sagen können: "EU-Recht ist nicht unser Job - Klage unzulässig." Hat es aber nicht. Dahinter steckt eine lange Vorgeschichte im Verhältnis der deutschen und europäischen Grundrechte sowie - quasi parallel - im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof in Luxemburg.
Welche Grundregeln gelten im Zusammenspiel von EU-Recht, nationalem Recht und den verschiedenen Gerichten?
Ausgangspunkt ist zunächst: Beim Thema "Grundrechtsschutz" gibt es zwei unterschiedliche Rechtsquellen, quasi zwei "Gesetzbücher". Die Grundrechte im deutschen Grundgesetz; und die Grundrechte der EU, inzwischen zusammengefasst in der "EU-Grundrechtecharta".
Deutsche Gesetze und Hoheitsakte müssen dem Grundgesetz entsprechen - das prüft das Bundesverfassungsgericht. EU-Rechtsnormen müssen der EU-Grundrechtecharta entsprechen - die Auslegung und Anwendung von EU-Recht überprüft der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Grundsätzlich gilt dabei: Dem EU-Recht kommt in der Praxis ein "Anwendungsvorrang" zu. Kollidiert es mit nationalem Recht, muss das nationale Recht also zur Seite treten und wird nicht angewandt.
Mehrere Grundrechtskataloge und mehrere Gerichte - das birgt Konfliktstoff und kann zur Frage führen, bei welchem Gericht man nach welchen Rechten Schutz bekommt. Wenn Deutschland Hoheitsrechte auf die EU übertragen hat, kann sich immer die Frage stellen: Wurden wirklich jegliche Kompetenzen abgegeben? Sind die nationalen Gerichte gar nicht mehr zuständig, sondern ausschließlich der EuGH?
Was hat das alles mit dem "normalen Bürger" zu tun?
Eine ganze Menge. Erst einmal darf man sich nicht davon beeindrucken lassen, dass es hier - zumindest laut italienischem Urteil - um einen schweren Straftäter geht, der Rechtsschutz sucht. Es geht um die Grundsatzfrage, ob ihm die Schuld im Ausland wirklich nachgewiesen wurde, also um zentrale Fragen des Rechtsstaates. Das kann jeden - auch in weniger schweren Fällen - betreffen. Vor allem aber: EU-Recht wird immer wichtiger und betrifft inzwischen fast jeden Lebensbereich. Deshalb sind viele andere Themen denkbar, in denen man als Bürger ein Problem hat und sich fragt: Ist der "Gang nach Karlsruhe" nun für mich möglich oder nicht?
Wo haben sich in dieser Gemengelage Konflikte ergeben?
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich immer wieder die Frage gestellt: Prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte mit EU-Bezug gegen deutsche Grundrechte verstoßen? Das ist auch die Konstellation im aktuellen Fall. Darf Karlsruhe den EU-Haftbefehl am Maßstab des deutschen Grundgesetzes kontrollieren? Die bisherige Linie aus Karlsruhe ist eng mit einem kleinen Wörtchen verbunden, es lautet: solange.
- 1974 gab es ein erstes Urteil, das den Titel "Solange I" trägt. Es lautet: Solange es auf EU-Ebene noch keinen vergleichbaren Grundrechtsschutz wie nach dem deutschen Grundgesetz gibt, prüfe Karlsruhe auch Rechtsakte mit EU-Bezug am Maßstab des Grundgesetzes. (Um ganz genau zu sein: Damals ging es noch um die EG).
- 1986 drehte das Gericht in "Solange II" den Maßstab um, denn der Grundrechtschutz hatte sich durch zahlreiche Urteile aus Luxemburg weiterentwickelt. Solange es auf EU-Ebene einen wirksamen und dem deutschen Maßstab generell vergleichbaren Grundrechtsstandard gibt, schreitet das Bundesverfassungsgericht nicht ein.
- Im Urteil zum EU-Vertrag von Lissabon hat das Bundesverfassungsgericht einen weiteren "Hebel" eingebaut, der einen eigenen Zugriff auf bestimmte Fälle ermöglicht: die "Verfassungsidentität". Vereinfacht gesagt bedeutet das: Es gibt eine Art "harten Kern" an Regeln des Grundgesetzes, dessen Kontrolle Karlsruhe nicht aus der Hand gibt. Genau das ist der Hebel, mit dem das Bundesverfassungsgericht nun im Einzelfall seine Prüfungskompetenz begründet, obwohl es um die Anwendung von EU-Recht geht. So wie im vorliegenden Fall der Auslieferung.
Wie begründet das BVerfG seinen Beschluss genau?
Zunächst muss das Gericht begründen, warum in diesem Fall die "Verfassungsidentität", also der "harte Kern" betroffen ist. Hier geht es um den "Schuldgrundsatz". Das heißt: Strafe setzt voraus, dass die individuelle Schuld der Person festgestellt wird. Dieser Grundsatz sei im Prinzip der Menschenwürde und des Rechtstaates verwurzelt. Der Schuldgrundsatz sei gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhalts vor Ort nicht sichergestellt sei und es konkrete Anhaltspunkte dafür gebe, dass bei einer Auslieferung gegen den Schutz der Menschenwürde verstoßen werde. Der Beschuldigte müsse auch die Möglichkeit haben, entlastende Umstände vorzutragen. Für eine richtige Strafzumessung sei zudem die Anwesenheit des Beschuldigten erforderlich. Dabei spielen ja zum Beispiel auch seine Lebensumstände eine Rolle. Das OLG Düsseldorf hätte zudem intensiver ermitteln müssen, was den Beschuldigten in Italien wirklich erwartet.
Spannend ist dann: Karlsruhe zieht daraus nicht den Schluss, dass das EU-Recht hier ausnahmsweise mal nicht den Vorrang vor deutschem Recht genießt. Das Bundesverfassungsgericht legt den Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl selbst aus und kommt zu dem Ergebnis, dass schon das EU-Recht selbst einer Auslieferung im konkreten Fall Grenzen setzt. Nach der Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes gibt es also keinen Konflikt zwischen EU-Recht und Grundgesetz.
Hätte das Bundesverfassungsgericht die Sache dem EuGH vorlegen müssen?
Über das "müssen" kann man trefflich diskutieren. Eine Vorlage an den EuGH kam jedenfalls in Betracht, das ist ein eigener Prüfungspunkt im Beschluss. Dazu muss man wissen: Wenn es um die Auslegung von EU-Recht geht, muss das nationale Gericht die Fragen dem EuGH vorlegen, der nach den EU-Verträgen für die Auslegung von EU-Recht zuständig ist. Im konkreten Fall heißt das zum Beispiel: Setzt auch der Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl rechtliche Grenzen, die eine Auslieferung verhindern können? Eigentlich also ein Fall für den EuGH. Karlsruhe zieht aber eine Karte aus dem Ärmel. Wenn die Auslegung von EU-Recht völlig klar ist und keinerlei Zweifel bestehen, muss ein nationales Gericht nicht vorlegen. Man spricht dann von einem "acte clair". Genau darauf stützt sich das Bundesverfassungsgericht. Die richtige Anwendung des Unionsrechts sei "derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt".
So gar kein Zweifel? Da wird der aufmerksame Beobachter aufhorchen. Denn der EuGH hatte sich durchaus schon in einem Fall zum Thema "EU-Haftbefehl nach Verurteilung in Abwesenheit" geäußert, nämlich 2013 im Fall "Melloni". Das spanische Verfassungsgericht hatte eine ähnliche Frage vorgelegt. Die spanischen Behörden wollten eine Auslieferung nach Italien mit dem Vorbehalt versehen, dass das Strafurteil im Fall Melloni noch einmal überprüft würde. Und bekam als Antwort vom EuGH: So ein Vorbehalt für eine Auslieferung sei nicht zulässig, es gebe auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens. Das klingt - zumindest abstrakt - nach einer anderen Auslegung des EU-Rahmenbeschlusses. Wollte Karlsruhe hier vielleicht einem Konflikt mit Luxemburg aus dem Weg gehen?
Allerdings lag der Fall "Melloni" bei genauem Hinsehen auch etwas anders. Der Beschuldigte Melloni war vor Strafverfolgung in Italien geflüchtet und hatte dort einen Verteidiger. Im aktuellen Fall aus Karlsruhe wusste der Kläger gar nichts von seiner Verurteilung in Abwesenheit zu 30 Jahren Haft. Der Fall ist also durchaus heftiger. Abschließende Antworten sind an dieser Stelle nicht möglich, die Frage "Vorlage an den EuGH Ja oder Nein?" wird die Analysten aber sicher beschäftigen.
Wirbelt der Beschluss die bisherigen Grundregeln im Verhältnis der Gerichte durcheinander?
Ja und nein. Der Beschluss setzt ein klares Ausrufezeichen, dass es Karlsruhe mit der Prüfung der "Verfassungsidentität" ernst meint und entsprechend einschreitet. Allerdings betont das Gericht auch deutlich, dass es sich um die absolute Ausnahme, nicht den Regelfall handeln wird. Der Versuch vieler Kläger, den Ausnahmefall zu begründen, könnte dem Gericht im Übrigen noch einige Arbeit bereiten.
Ob der aktuelle Beschluss nun eine Abkehr von den Grundsätzen der Entscheidung "Solange II" bedeutet, wird die anstehende Diskussion ebenfalls prägen. "Solange II" lebt von der Aussage, dass das Gericht Hoheitsakte mit EU-Bezug nicht prüft, solange ein generell vergleichbarer Standard an Grundrechten gewährleistet ist. Eine Prüfung - wenn auch nur mit hohen Hürden im Einzelfall - durchbricht diesen Grundsatz und relativiert ihn.
Was heißt der Beschluss für das Verhältnis von BVerfG und EuGH?
"Kooperationsverhältnis", "Gerichtsverbund" - die offiziell verwendeten Begriffe spiegeln nicht immer wider, dass es bei aller Zusammenarbeit auch knirscht im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und EuGH. Der aktuelle Beschluss sorgt definitiv für neuen Diskussionsstoff in der jahrzehntealten und facettenreichen Debatte. Wer das "letzte Wort" im Verbund der Gerichte hat? Diese Frage hört keiner der Beteiligten gerne. Entscheidungen wie die aktuelle bringen diese Frage aber immer wieder auf den Tisch, ob man es will oder nicht.
Dass Karlsruhe nun ernst macht mit der "Identitätskontrolle" wird in Luxemburg keinesfalls auf Begeisterung stoßen. Die Karlsruher Hinweise, dass eine "Identitätskontrolle" aus ihrer Sicht von den EU-Verträgen erlaubt sei, sie zurückhaltend ausgeübt werde, und auch andere EU-Länder solche Vorkehrungen eingebaut hätten, dürfte daran wenig ändern. In Luxemburg legt man Wert darauf, dass der EuGH sich in den vergangenen Jahren verstärkt zu einem europäischen Grundrechte-Gericht entwickelt habe. Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung und zu "Safe Harbour" in Sachen Datentransfer in die USA sind dafür Beleg. Insofern wäre es durchaus spannend gewesen, die Antwort auf eine Karlsruher Vorlage im aktuellen Fall zu hören.
Auf der Tagesordnung bleibt das Verhältnis der beiden Gerichte und Rechtsordnungen ohnehin. Am 16. Februar wird es in Karlsruhe erneut um das "OMT-Programm" der Europäischen Zentralbank gehen, also den 2012 angekündigten unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen. Für Karlsruhe war das eine unerlaubte Staatsfinanzierung. Erstmals in der Geschichte legte das Gericht eine Frage in Luxemburg vor. Inhaltlich hat Luxemburg die Frage der Staatsfinanzierung anders beurteilt, die EZB aber nicht im rechtsfreien Raum gesehen, sondern durchaus einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Wie Karlsruhe darauf reagiert, werden Verhandlung und abschließendes Urteil zeigen.