Vor Urteil des Bundesverfassungsgerichts Bundestag gegen Bundestag
„Opposition ist Mist“, hat Franz Müntefering einmal gesagt. Heute urteilt das Bundesverfassungsgericht über Rechte der Minderheit im Bundestag. Ein wichtiges Thema in Zeiten der Großen Koalition.
Worum geht es?
Rederecht, Anfragen oder Anträge stellen - das sind klassische Rechte der Opposition im Bundestag, um die Regierungsmehrheit zu attackieren und die Regierung zu kontrollieren. Bestimmte Rechte der parlamentarischen Minderheit sind allerdings grundsätzlich an festgelegte Quoren gebunden. Man braucht also eine bestimmte Zahl von Abgeordneten, um sie wahrnehmen zu können.
Nach dem Grundgesetz sind zum Beispiel die Stimmen von einem Viertel der Abgeordneten nötig:
- Um einen Untersuchungsausschuss einzuberufen
- Um ein von der Mehrheit beschlossenes Gesetz in Karlsruhe überprüfen zu lassen, ob es verfassungswidrig ist (sogenannte "abstrakte Normenkontrolle")
Die Stimmen eines Drittels der Mitglieder des Bundestages sind zum Beispiel nötig, um einen Antrag auf Einberufung des Bundestages zu stellen.
Das Problem aus Sicht von Grünen und Linkspartei: In dieser Legislaturperiode gibt es eine "Große Koalition" im wahrsten Sinne des Wortes. Selbst gemeinsam erreichen die Oppositionsfraktionen derzeit nicht die Hürde von 25 Prozent der Mitglieder des Bundestages. Zusammen haben Linksfraktion und Grüne rund 20 Prozent, stellen 127 der 630 Abgeordneten. Und es geht um viel. Ein Untersuchungsausschuss ist ein scharfes Schwert der Opposition, um Kontrolle auszuüben, aber auch, um sich zu profilieren. Gleiches gilt für den Gang nach Karlsruhe. Denn fast jedes wichtige Gesetz landet ja inzwischen beim Bundesverfassungsgericht.
Meinen die Begriffe "Oppositionsrechte" und "Minderheitenrechte" dasselbe?
In der Praxis meistens ja, rechtlich aber nicht. Denn die umstrittenen Rechte wie der Untersuchungsausschuss und die Normenkontrolle sind nicht daran gekoppelt, ob Abgeordnete in der Opposition sind oder nicht. Es geht allein darum, mit einer bestimmten Zahl von Abgeordneten das nötige Quorum zu erreichen. Eine Gruppe von Abgeordneten könnte sich also auch bunt aus allen möglichen Fraktionen zusammensetzen. In der Praxis sind es trotzdem meistens die Oppositionsfraktionen, die von den Minderheitenrechten Gebrauch machen.
Welche Vorgeschichte hat die Klage der Linksfraktion?
Die aktuelle Situation wollten Grüne und Linksfraktion nicht auf sich sitzen lassen. Im Januar und März 2014 brachten sie Gesetzesentwürfe in den Bundestag ein, die die Rechte der Opposition auch in dieser Legislaturperiode sichern sollten. Die Entwürfe wurden aber von der Mehrheit im Bundestag abgelehnt. Allerdings: Die Regierungsmehrheit beschloss eine Alternative. Die Geschäftsordnung des Bundestages wurde ergänzt, um einen § 126a ("Besondere Anwendung von Minderheitsrechten in der 18. Wahlperiode"). Danach können zahlreiche Minderheitenrechte im Plenum des Bundestages mit einem Quorum von 120 Abgeordneten ausgeübt werden. Mit einer Ausnahme: Der Antrag auf Normenkontrolle, also die Überprüfung eines Gesetzes in Karlsruhe, ist nicht von der neuen Regelung in der Geschäftsordnung umfasst. Im Ergebnis führt die Ergänzung der Geschäftsordnung nun dazu, dass Linke und Grüne gemeinsam zum Beispiel einen Untersuchungsausschuss beantragen können.
Was kritisiert die Klage genau?
Die Fraktion der Grünen hat es bei den Anträgen im Bundestag belassen, die Linksfraktion ist bis nach Karlsruhe gegangen. Sie kritisiert im Wesentlichen zwei Punkte:
- Eine Reglung in der Geschäftsordnung des Bundestages sei ein "Recht zweiter Klasse". Die Geschäftsordnung müsste man ja jede Legislaturperiode erneut beschließen und entsprechend ergänzen. Und man ist vom guten Willen der Mehrheit abhängig. Die Minderheitenrechte müssten im Grundgesetz selbst bzw. in den einschlägigen Gesetzen verankert werden.
- Das Recht, von der Mehrheit beschlossene Gesetze in Karlsruhe überprüfen zu lassen ("abstrakte Normenkontrolle"), gebe es weiterhin nur ab dem Quorum von 25 Prozent.
Es geht in der Klage also um effektive Mitwirkungsrechte der Opposition. Im Mittelpunkt steht für die Linksfraktion die derzeit unmögliche abstrakte Normenkontrolle, das betonte Gregor Gysi im Karlsruher Gerichtssaal bei der mündlichen Verhandlung im Januar 2016. Gegen die Gesetze zu Mindestlohn, Tarifeinheit, Mütterrente oder Maut habe man als Opposition zum Beispiel nicht klagen können. Schon die Möglichkeit oder Drohung einer Klage habe in der Vergangenheit oft Wirkung gezeigt.
Was hält der Bundestag dagegen?
Es ist bereits eine spannende Konstellation, dass ein Teil des Bundestages, also eine Fraktion, gegen den Bundestag klagt - "Bundestag gegen Bundestag" also. Ob so eine Klage überhaupt zulässig ist, lautet eines von mehreren Themen in Karlsruhe. Der Bundestag widerspricht natürlich nicht der Annahme, dass eine wirkungsvolle Opposition ein zentraler Faktor in einer Demokratie ist, und dass auch Minderheiten im Bundestag ihre Rechte haben müssen. Allerdings hält er dagegen, dass man mit der Ergänzung der Geschäftsordnung in Sachen Untersuchungsausschuss seine verfassungsrechtliche Pflicht erfüllt habe.
Wie ist die mündliche Verhandlung am 13. Januar 2016 gelaufen?
Grundsätzlich ist das Bundesverfassungsgericht zwar bekannt dafür, die Rechte der Minderheiten und der Opposition im Bundestag gut zu schützen. Daraus kann man aber für den vorliegenden Fall keine Schlüsse ziehen. Das Gericht müsste für einen Erfolg der Klage zu dem Ergebnis kommen, dass das Grundgesetz den Bundestag zwingend verpflichtet, die Hürden für die benannten Minderheitenrechte zu senken. Also dass die Verfassung selbst verfassungswidrig ist.
Aus den Fragen der acht Richterinnen und Richtern des Zweiten Senates in der Verhandlung war Skepsis herauszuhören, ob die Klage wirklich erfolgreich sein werde.
Wie solle man sich denn über den klaren Wortlaut der Verfassung hinwegsetzen? So fragte Präsident Andreas Voßkuhle. "Ein Viertel ist ein Viertel", ergänzte er mit Blick auf die Hürde von 25 Prozent für eine Normenkontrolle. Außerdem zeige die Praxis, dass umstrittene Gesetze auch auf anderem Weg zur Überprüfung nach Karlsruhe kämen, etwa durch Klagen von betroffenen Bürgern. Einige Richter brachten auch die grundsätzliche Rollenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Politik ins Spiel. Dem Gericht werde ja oft vorgeworfen, sich zu stark in politische Themen einzumischen. Ein gewisses Quorum solle ja auch verhindern, dass die Klage in Karlsruhe zu einem politischen "Kampfinstrument" werde.
Warum kann die Linksfraktion in diesem Fall überhaupt in Karlsruhe klagen, wenn doch angeblich ihre Klagerechte beschränkt sind?
Man darf verschiedene Klagearten nicht durcheinander bringen. Bei der "abstrakten Normenkontrolle" geht es darum, dass eine oder mehrere Oppositionsfraktionen in Karlsruhe gegen ein beschlossenes Gesetz klagen. Das ist wegen der aktuellen Mehrheitsverhältnisse derzeit nicht möglich. Umstrittene Gesetze müssen auf anderem Wege zum Bundesverfassungsgericht gelangen, zum Beispiel über einzelne Bürger (Beispiel Vorratsdatenspeicherung) oder die Bundesländer als Kläger (Beispiel Betreuungsgeld). Die aktuelle Klage für mehr Minderheitenrechte ist aber ein sogenanntes "Organstreitverfahren". Eine Bundestagsfraktion kann darin geltend machen, in ihren Rechten als Fraktion verletzt zu sein. Diese Klageart ist unabhängig von bestimmten Quoren möglich und wird von der Linksfraktion intensiv genutzt.