Definitionen und Debatten Wie arm ist Deutschland wirklich?
Was ist Armut und wie drängend ist dieses Problem hierzulande eigentlich? Darüber gehen die Meinungen denkbar weit auseinander. Wer ist am meisten von Armut betroffen und welches sind die größten Risiken? tagesschau.de hat wichtige Fragen und Antworten zum Thema Armut zusammengefasst.
Von Sandra Stalinski, tagesschau.de
Wann ist man eigentlich arm?
Es gibt sehr unterschiedliche Definitionen dafür, ab wann ein Mensch als arm angesehen wird. In Deutschland arbeitet das Statistische Bundesamt mit einem relativen Wert, nach der sogenannten Armutsgefährdungsquote: Armut wird hier im Vergleich zum durchschnittlichen Einkommen der Deutschen bemessen. Als armutsgefährdet gilt demnach, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient. Für Singles liegt diese Grenze derzeit bei 952 Euro netto im Monat. Unter dieser Schwelle liegen in Deutschland aktuell 15,8 Prozent der Bevölkerung. (Quelle: Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz. Der Paritätische Gesamtverband hat für seinen Bericht den Mikrozensus als Datenbasis genommen. Hier ist die Grenze für Singles bei 848 Euro.)
Diese Definition allein ist aber nicht besonders aussagekräftig, da Armut von vielen anderen Faktoren abhängt. Die EU hat deshalb 2005 einen komplexen Sozialindikator eingeführt, der auch materielle Entbehrung und geringe Erwerbsbeteiligung als Kriterien mit einbezieht. Betroffen sind demnach also beispielsweise Menschen, die weniger als 20 Prozent ihrer verfügbaren Zeit arbeiten, die Miete oder laufende Rechnungen nicht rechtzeitig bezahlen können oder nicht mindestens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit einnehmen können. Nach dieser Definition sind in Deutschland 19,9 Prozent der Bevölkerung beziehungsweise etwa 16 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Weitere Faktoren, die beim Thema Armut eine wichtige Rolle spielen, sind die Größe eines Haushalts oder auch die subjektive Empfindung, ob ein Mensch unter materieller Entbehrung leidet oder nicht.
Noch schwieriger ist es, Armut weltweit zu definieren. Weltbank und UN arbeiten hier dennoch mit einem absoluten Wert: Als extrem arm gilt demnach, wer weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zur Verfügung hat.
Wer ist besonders betroffen?
Laut EU-Definition ist die am stärksten armutsgefährdete Gruppe in Deutschland die der Alleinerziehenden. Von ihnen sind laut Statistischem Bundesamt 37,1 Prozent armutsgefährdet. Auch Alleinlebende sind überdurchschnittlich stark betroffen, nämlich zu 32,3 Prozent.
Frauen waren im Jahr 2011 mit einer Quote von 21,3 Prozent häufiger von Armut beziehungsweise sozialer Ausgrenzung betroffen als Männer (18,5 Prozent). Das liegt vor allem daran, dass Frauen und insbesondere Mütter ihre Erwerbstätigkeit häufiger unterbrechen oder auch häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer. Kinder und junge Menschen unter 18 liegen mit einer Quote von 19,9 Prozent genau im Bundesdurchschnitt. Kinder sind kein Armutsrisiko an sich. Sie sind nur dann besonders gefährdet, wenn ihre Eltern eine geringe Erwerbsbeteiligung haben. Dies betrifft vor allem arbeitslose Eltern, getrennt lebende Eltern oder Eltern mit Migrationshintergrund. Ältere Menschen ab 65 Jahren sind seltener, nämlich nur zu 15,3 Prozent von Armut betroffen. Bei ihnen entfällt allerdings das Kriterium "sehr geringe Erwerbsbeteiligung". Personen zwischen 18 und 64 Jahren waren hingegen häufiger, nämlich zu 21,3 Prozent betroffen.
Wie drängend ist das Problem Armut im Alter?
Beim Thema Altersarmut gehen die Meinungen weit auseinander. Nach dem aktuellen Entwurf des 4. Armutsberichts der Bundesregierung ist die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute überdurchschnittlich gut. Am Jahresende 2011 seien nur 2,6 Prozent der über 64-Jährigen Empfänger der Grundsicherung im Alter gewesen. Das heißt, etwa 436.000 Menschen über 64 lebten auf Harzt-IV-Niveau. Zu einem größeren Problem werde Altersarmut aber in der Zukunft.
Auch ein aktuelles Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium sieht Altersarmut derzeit nicht als drängendes Problem, abgesehen von speziellen Gruppen. Besonders bedroht sind demnach Alleinerziehende, Geringqualifizierte und Jugendliche, vor allem wenn sie einen Migrationshintergrund haben. Auch in den neuen Bundesländern drohe eine höhere Armutsgefährdung im Alter, die zum Teil auf die höhere Arbeitslosigkeit zurückzuführen sei.
Völlig anders sieht das der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Seiner Einschätzung nach ist die Altersarmut schon jetzt alarmierend. Die Dunkelziffer bei der Grundsicherung im Alter betrage mehr als 60 Prozent, da sich gerade ältere Menschen scheuten, zum Amt zu gehen. "Oft wissen sie auch gar nicht, dass es diese Leistung gibt oder dass sie ihnen zusteht", sagt Butterwegge. Hinzu komme, dass mehr als 760.000 Menschen über 64 einen Minijob haben, fast 120.000 davon seien 75 Jahre und älter.
Wie wird sich die Altersarmut in der Zukunft entwickeln?
Während die Bundesregierung aktuell noch keine große Altersarmut sieht, warnt sie in ihrem Armutsbericht davor, dass es künftig gerade bei Geringverdienern trotz langjähriger Beitragszahlung zu relativ geringen Rentenansprüchen kommen könne. Deshalb werde zusätzliche Vorsorge in Zukunft immer wichtiger. Schon im September schlug Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Alarm: Arbeitnehmer, die 2500 Euro brutto im Monat verdienten und 35 Jahre lang Vollzeit gearbeitet hätten, erhielten ab 2030 nur eine Rente in Höhe des Grundsicherungsbetrages von 688 Euro. Auch 40 Jahre Beitragszahlungen führten nur zu einer geringfügig höheren Rente. Aufgrund der Absenkung des Rentenniveaus werde es keine Ausnahme mehr sein, "dass Niedrigverdiener, die Jahrzehnte gearbeitet, in die Rentenkasse eingezahlt und ihr ganzes Erwerbsleben unabhängig von staatlicher Hilfe bewältigt haben, mit dem Tag des Renteneintritts den Gang zum Sozialamt antreten müssen."
Auch die Nationale Armutskonferenz, eine Vereinigung aus Kirchen, Verbänden, Betroffeneninitiativen und Gewerkschaften sieht in der Altersarmut ein drängendes Problem der Zukunft: In den kommenden Jahren werde es eine "dramatische Zunahme der Einkommensarmut im Alter" geben. Der Anstieg sei Folge des Strukturwandels im Beschäftigungssystem und der Auswirkungen auf Erwerbs- bzw. Beitragsbiographien.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium kommt in seinem Gutachten hingegen zu dem Schluss, dass die Altersarmut sich nicht zwingend drastisch erhöhen müsse. Dies hänge vor allem davon ab, ob die Menschen bereit und in der Lage seien, später als bisher in Rente zu gehen und privat oder betrieblich für das Alter vorzusorgen. Außerdem hänge es davon ab, wie sich der Anteil der nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse, der Teilzeitarbeiter und Geringverdiener entwickeln wird.
Welches sind die größten Risiken und Ursachen für Armut?
Laut Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) birgt ein niedriges Bildungsniveau ein hohes Armutsrisiko. Die Möglichkeit, eine Beschäftigung zu erhalten, sei dadurch geringer. Außerdem seien gesundheitliche Beeiträchtigungen, wie eine chronische Erkrankung oder Sucht, ein wichtiger Faktor. Bei der am meisten armutsgefährdeten Gruppe, den Alleinerziehenden, sieht er vor allem eine nicht ausreichende Infrastruktur als Ursache für drohende Armut: "Alleinerziehende Mütter haben oft durchaus ein hohes Bildungsniveau, das sie nicht angemessen einsetzen können, wenn nicht genügend Krippenplätze vorhanden sind, um Erziehung und Beruf miteinander zu vereinbaren."
Antonie Kerwien von der OECD sieht darüber hinaus in Alter, Geschlecht und Familienstand wichtige Faktoren für drohende Armut. Das Armutsrisiko von alleinlebenden Frauen über 75 sei beispielsweise annähernd doppelt so hoch wie beim Bevölkerungsdurchschnitt: "Je älter und je einsamer Frauen sind, desto höher ist ihr Risiko."
Warum gehen die Meinungen über Armut so stark auseinander?
Armut ist - so könnte man zynisch sagen - vor allem eine Frage der Definition. Am deutlichsten wird das, wenn man arme Menschen in Deutschland beispielsweise mit Menschen aus Entwicklungsländern vergleicht. Dass es um diese Form der existenziellen Armut in Deutschland nicht gehen kann, ist klar. Hierzulande sprechen wir über relative Armut. Da die Maßstäbe und Vergleichswerte für Armut aber so unterschiedlich sind, gehen auch die Meinungen darüber sehr weit auseinander.
Aber auch, wenn man nur auf Deutschland blickt, gibt es große Definitionsunterschiede. Deutlich wird das besonders am Thema Altersarmut: Ist nur arm, wer eine Grundsicherung im Alter bezieht? Dann ist die Zahl der armen Menschen über 65 derzeit tatsächlich verhältnismäßig gering. Wenn man aber die Armutsgefährdungsquote in Deutschland heranzieht, dann liegt die Zahl wesentlich höher. Erst recht problematisch wird die Bewertung, wenn es um Prognosen geht, sagt Markus Grabka vom DIW. "Niemand kann die Zukunft genau berechnen. Hier wird zwangsläufig mit sehr vielen Unbekannten gearbeitet, deshalb kommt es zu unterschiedlichen Bewertungen."
Wo in Deutschland ist die Armut am größten?
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern sind bei der Armutsquote recht groß. Die Armutsspanne zwischen den einzelnen Ländern ist in den vergangenen vier Jahren jedoch kleiner geworden, wie aus dem aktuellen Ranking des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervorgeht. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland seien zwar eklatant, würden jedoch seit 2005 im Trend etwas kleiner. Das ärmste Bundesland in Deutschland ist Bremen mit einer Armutsquote von 22,3 Prozent. Damit liegt erstmals ein westdeutsches Bundesland am Ende der Skala. Ähnlich arm ist Mecklenburg-Vorpommern mit einer Quote von 22,2 Prozent, dicht gefolgt von Berlin (21,1 Prozent), Sachsen-Anhalt (20,5 Prozent) und Sachsen (19,6 Prozent). Die reichsten Bundesländer sind Baden-Württemberg (11,2 Prozent) und Bayern (11,3 Prozent).