Biograf über Gaucks Kritik an Russland "Wohlüberlegt und abgestimmt"
Deutliche Worte als politische Strategie - so bewertet Gaucks Biograf Johann Legner die Rede des Bundespräsidenten in Danzig. Gauck könne freier sprechen als Merkel oder Steinmeier. Das sei ganz in deren Sinne, so Legner im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs hat Bundespräsident Joachim Gauck während der Gedenkfeier in Polen deutlich vor einer weiteren russischen Aggression gewarnt. Dafür wird er von der Linkspartei scharf kritisiert. Gießt Gauck tatsächlich Öl ins Feuer?
Johann Legner: Gauck hat vor dem Hintergrund des 1. Septembers und des Überfalls auf Polen ein klares Signal setzen wollen: Die Beziehungen zum Nachbarland Polen sind für ihn von höchster Priorität. Damit hat er den Polen das gesagt, was die Polen hören wollten. In der deutschen Öffentlichkeit sind dagegen seine Aussagen umstritten. Die Mehrheit dürfte die Kritik an Russlands Politik teilen, eine starke Minderheit aber nicht.
Johann Legner arbeitete für taz, ARD und n-tv, bevor er 1996 Pressesprecher von Joachim Gauck wurde, damals Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde. 2001 wechselte Legner zur Lausitzer Rundschau. Inzwischen ist Legner als Publizist und Autor tätig. Im Oktober erscheint seine Gauck-Biografie.
tagesschau.de: Glauben Sie, dass seine Rede mit Kanzleramt und Auswärtigem Amt abgesprochen war? Und dass womöglich eine Strategie dahintersteckt, weil ein Bundespräsident sich anders ausdrücken kann als eine Kanzlerin oder ein Außenminister?
Legner: Ich denke, die Rede war wohlüberlegt und sorgfältig abgestimmt. Ich gehe davon aus, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier vorher wusste, was der Bundespräsident in Polen sagen wird. Ich halte das Verhältnis der beiden für ausgesprochen kooperativ.
Gauck ist kein Akteur im operativen Geschäft der tagesaktuellen Außenpolitik. Insofern kann er manches sagen, was der Außenminister vielleicht nicht sagen kann, weil er seinen russischen Amtskollegen gleich am nächsten Tag wiedertrifft. Ich empfinde die Rolle, die Gauck übernommen hat, als voll in die Politik der Bundesregierung eingebunden - mit einer sehr spezifischen Akzentuierung.
tagesschau.de: Die worin besteht?
Legner: Gauck sagt das, was viele denken, aber nicht immer sagen wollen, weil sie damit Gesprächskontakte erschweren, die bei Gauck gar nicht existieren. Von daher kann man durchaus von einer Strategie sprechen. Gauck entlastet sozusagen die Bundesregierung in ihrem Versuch, diplomatische Kanäle zu öffnen oder offen zu halten.
Sicher gab es auch schon Irritationen, zum Beispiel als Gauck sehr spontan die Einladung zu den olympischen Sommerspielen in Sotschi abgelehnt hat. Aber in den letzten Wochen und Monaten erscheint mir das ganze Vorgehen als ein sehr koordiniertes.
Gaucks großes Thema "Freiheit" diesmal nachrangig
tagesschau.de: Inwieweit ist Gaucks Vehemenz auch der eigenen Biografie und seinem großen Thema "Freiheit" geschuldet?
Legner: Das Thema "Freiheit" ist wichtig, spielt aber eine nachgeordnete Rolle. Gauck betrachtet Russland bestimmt nicht unvoreingenommen. Er dürfte sich sehr genau an die Zeiten erinnern, als die Führung in Moskau auch in sein Leben hinein skrupellos agierte. Aber er ist erfahren genug, um sich der eigenen Vorurteile bewusst zu sein. Nie würde er ein negatives Urteil über die Russen als solche fällen.
Was ihm darüber hinaus sehr wichtig ist, ist das Verhältnis zu Polen. Denn für die Polen begann mit dem 1. September und den Tagen danach nicht nur der deutsche Überfall, sondern auch der russische Einmarsch. Dieser damalige Teil Polens gehört heute zu Weißrussland oder der Ukraine. Gaucks Sensibilität dafür hat tatsächlich biografische Gründe, denn sein erster Auslandsaufenthalt als kleines Kind war während des Kriegs in Polen, weil sein Vater dort stationiert war.
tagesschau.de: Jüngst in Frankreich hat sich Gauck als Präsident präsentiert, der vor allem versöhnen will. Passen die Warnungen vor Russland in dieses Bild?
Legner: Da gibt es sicher einen gewissen Bruch, und es gibt auch viele kritische Stimmen, die aus keiner parteipolitischen Ecke kommen. Das kann auch ich nachvollziehen: Generell macht es wenig Sinn, wenn ein deutsches Staatsoberhaupt andere Länder verbal attackiert.
Gauck ist das ja nicht fremd. Er findet des Öfteren wie zum Beispiel in der Schweiz eine deutlichere oder kritischere Note, als ein deutscher Diplomat das normalerweise tun würde. Aber auch das gehört zur Arbeitsteilung. Der Bundespräsident, und vor allem dieser Bundespräsident, übernimmt eine andere Rolle als die Bundeskanzlerin oder der Außenminister.
Anders als seine Vorgänger
tagesschau.de: Unterscheidet sich Gauck darin von seinen Vorgängern?
Legner: Ja. Gauck ist ein Mann, der es nicht liebt, wenn er allen einen Gefallen tut. Dann findet er sich nicht wieder. Gauck sieht die Welt als eine an, in der er von Zeit zu Zeit deutlich benennen muss, was aus seiner Sicht ein Missstand ist. Damit steht er nicht in der Tradition aller Bundespräsidenten.
tagesschau.de: Wo verläuft für Sie Gaucks außenpolitische Linie? Propagiert er eine neue Politik der deutschen Stärke?
Legner: Gauck als Präsident misst Deutschland eine gewichtige Rolle zu. Das schließt für ihn ein, dass man dem Nachbarn auch mal klar sagt, was Sache ist. Das lässt sich dann nicht vermeiden. Gauck hat auch persönlich erlebt, dass Deutschland für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs den Preis der Teilung bezahlt hat.
Viele Jahre ist er im Osten daran gehindert worden, sich so frei zu bewegen und so frei zu reden, wie wir im Westen das gewohnt sind. Vielleicht macht ihn das heute selbstbewusster. Jedenfalls glaube ich, dass Gauck mit den Themen "Schuld und Scham" anders umgehen kann, als manch westdeutscher Zeitgenosse.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de