DDR-Volksaufstand vor 70 Jahren "Die erste freiwillige Demonstration"
Am 17. Juni 1953 gingen Bürgerinnen und Bürger zum ersten Mal gegen die DDR-Regierung auf die Straße. Es sollte für lange Zeit der einzige Massenaufstand bleiben. Zeitzeugen halten die Erinnerung wach.
Wolfgang Jähnichen ist viel beschäftigt in diesen Tagen. Er ist einer von nicht mehr allzu vielen Zeitzeugen, die erzählen können, wie es damals war am 17. Juni 1953. Jähnichen, 83 Jahre alt, eilt von einem Termin zum anderen: Vorträge, Podiumsdiskussionen, Interviews. Gerade ist er im Georg-Mendheim-Oberstufenzentrum im brandenburgischen Oranienburg angekommen.
Die Aula ist restlos gefüllt, vor ihm sitzen fast 100 Schülerinnen und Schüler, die heute nur ein paar Jahre älter sind als er es damals war. "Das ist eine Herzensangelegenheit, ihnen deutsche Geschichte beizubringen", sagt Jähnichen mit strahlenden Augen. Der Volksaufstand ist 70 Jahre her und manches weiß er einfach nicht mehr hunderprozentig. Dann gibt Jähnichen seine Erinnerungslücken unumwunden zu - besser als er "Unsinn" zu erzählen, wie er sagt.
Wolfgang Jähnichen erlebte den 17.Juni 1953 in Dresden.
Heimlich "Westradio"
Jähnichen fängt an, zu erzählen. Davon, wie er - damals Schüler in Dresden - schon heimlich "Westradio" gehört hat, den Alliiertensender RIAS. Daher wusste er, dass am 17. Juni "was los sein wird". Anstatt nach Hause zieht der damals 13-Jährige an diesem geschichtsträchtigen Tag nach der Schule in die Innenstadt. Dort sind tausende Menschen unterwegs. Jähnichen läuft mit, "aus Sensationslust", wie er zugibt.
Die Demonstranten fordern zunächst ein Ende der "Normerhöhungen": Die DDR-Regierung hatte kurz zuvor beschlossen, die Arbeitsnorm heraufzusetzen. Die Arbeiter sollten also mehr produzieren, bei gleichem Lohn. Zwar hat die Staatsführung diese Anordnung angesichts des gärenden Unmuts im Volk bereits wieder rückgängig gemacht - doch es ist zu spät. Die Volksseele brodelt.
Eine freiwillige Demonstration
Und der junge Wolfgang Jähnichen ist erstaunt: Umzüge kannte er bislang nur als angeordnete Veranstaltungen. Beispielsweise wenn am 1. Mai der Sozialismus bejubelt werden sollte. An diesem 17. Juni ist alles anders: "Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich überhaupt eine Demonstration erlebt habe, die nicht gezwungenerweise vom Staat angeordnet war, sondern freiwillig."
Es dauert nicht lange, bis die Menge viel weitergehende Forderungen skandiert: Die deutsche Einheit, freie Wahlen und der Rücktritt der Regierung werden gefordert. Eine Blamage für die regierende SED. Die Demonstranten wollen politische Gefangene befreien, doch das scheitert. Zunächst ist nur die ostdeutsche Volkspolizei vor Ort, doch dann fahren plötzlich sowjetische Panzer auf. Die Soldaten sprechen nur Russisch.
"Die Offiziere schrien etwas in die Menge, was wir natürlich nicht verstanden haben", erinnert sich Jähnichen. Er und seine Mitschüler versuchen noch zu übersetzen - schließlich haben sie zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Jahre Russischunterricht hinter sich. Es nützt nichts. Die Menge weicht nicht - stattdessen fallen plötzlich Schüsse: "Aber - da lege ich wirklich großen Wert drauf - nicht in die Menge, sondern über die Menge hinweg."
Schüsse über die Köpfe und eine Ohrfeige
Die Menge zerstreut sich. Auch Jähnichen bekommt Angst und läuft weg. Der Arbeiteraufstand in Dresden ist vorbei - wie auch in anderen Städten der DDR. Im ganzen Land werden mehr als 50 Menschen getötet oder im Nachgang des 17. Juni zum Tode verurteilt. Es wird für mehr als 30 Jahre der letzte Versuch bleiben, mit Massendemonstrationen das SED-Regime zu stürzen.
Für Jähnichen endet dieser aufregende Tag mit einer Ohrfeige. Seine Mutter verpasst sie ihm, vor Sorge völlig aufgelöst, wo "der Kleene" denn bleibt. Politisch hatte sein Elternhaus mit der DDR da schon längst abgeschlossen. Die sozialdemokratische Familie machte sich keine Illusionen, wie der real existierende Sozialismus unter SED-Herrschaft aussehen wird.
Jähnichen durfte aus politischen Gründen nicht studieren und verließ die DDR noch vor dem Mauerbau. Dort musste er sein Abitur noch einmal machen - und durfte endlich studieren.
Der 17. Juni ist seiner Meinung nach oft zu kurz gekommen in der deutschen Erinnerungskultur: "Im Osten: Da durfte man nicht drüber reden. Und im Westen: Da redete man einfach nicht drüber, weil man lieber einen Ausflug machte", sagt Jähnichen. Seine Kommilitonen hätten sich großteils gar nicht dafür interessiert, warum der 17. Juni Feiertag war - und wären einfach fröhlich an den Badesee gefahren, sagt er.