Foodsharing Teilen statt Tonne
Essbare Lebensmittel vor dem Müll retten - was vor Jahren aus Umweltgründen begann, ist in Zeiten hoher Preise weit mehr als das. Als Konkurrenz zu den Tafeln sehen sich Foodsharing-Initiativen aber nicht. Von Axel John.
Essbare Lebensmittel vor dem Müll retten - was vor Jahren aus Umweltgründen begann, ist in Zeiten hoher Preise weit mehr als das. Als Konkurrenz zu den Tafeln sehen sich Foodsharing-Initiativen aber nicht.
Mit einer großen Umhängetasche kommt Marie-Theres Hohenner in den Supermarkt "Ihr guter Nachbar" in Mainz-Gonsenheim. Die Auslagen direkt am Eingang interessieren sie nicht. Sie geht gleich weiter in den Hinterhof. Dort hat Filialleiter Werner Schmidt Lebensmittel mit kleinen Macken aussortiert, die nicht in der Mülltonne enden sollen.
Einmal pro Woche kommt die ehrenamtliche Mitarbeiterin des Vereins Foodsharing, um noch essbare Ware einzusammeln und dann zu verteilen. Hohenners Blick wandert über mehrere Stiegen mit Äpfeln, Karotten und Milchprodukten: "Es ist heute eine Mischung aus Sachen, deren Haltbarkeitsdatum schon überschritten ist und Lebensmitteln mit Druckstellen, die deshalb nicht mehr so schön aussehen. Die meisten Konsumenten nehmen das nicht mehr mit."
So wie Hohenner engagieren sich Zehntausende in dem bundesweiten Verein gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. Für mehr Ressourcen und Umweltschutz sammeln sie in Supermärkten Essbares, das niemand mehr kaufen will, und verteilen es kostenlos. Was als Idee für mehr Nachhaltigkeit vor zehn Jahren begann, wird für immer mehr Menschen wegen der hohen Teuerung zu einer wichtigen Hilfe im Alltag.
"Wir nehmen niemandem etwas weg"
Auch Filialchef Schmidt freut sich über die Resteverwertung seiner unverkäuflichen Waren. Vor 38 Jahren hat er im Lebensmittelbereich angefangen. "Ich kenne es noch von ganz früher, als ich den Beruf gelernt habe. Damals ist alles, was übrig blieb, im Müll gelandet. Da ist zum Teil ja noch kontrolliert worden, dass keiner an die Tonne geht und die Sachen rausholt. Heute gibt es die Tafeln oder auch Foodsharing. Das finde ich prima. Es gibt ja auch viele Menschen, die darauf angewiesen sind."
Hohenner hört zu und nickt. "Wir arbeiten mit Hilfsorganisationen zusammen. Im Gegensatz zur Tafel dürfen wir auch Sachen verteilen, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist. Wir nehmen also niemanden etwas weg."
Marie-Theres Hohenner sieht sich die Lebensmittel an.
Die Essensretterin greift sich eine Stiege, läuft damit zu ihrem Auto und stapelt eine Box nach der anderen in ihrem Kofferraum. Warum macht sie die ehrenamtliche Arbeit neben ihrem regulären Job und der Familie? "Ich kann es kaum ertragen, dass so etwas weggeworfen werden soll. Meine Eltern sind noch aus der Kriegsgeneration. Das hat mich geprägt. Wir haben heute zu wenig Wertschätzung für Lebensmittel."
Seit Jahren wachse das Interesse am Prinzip Foodsharing auch in Mainz. Im vergangenen Jahr habe die Idee aber nochmal einen Schub bekommen - wegen der allgemeinen Teuerung, so Hohenner. "Ich beobachte mehr Anfragen in unserer Mainzer Gruppe", erzählt sie, während sie ihren Wagen startet und sich auf den Weg zu einer Kita macht. "Auch die Anzahl von Abholern steigt langsam, aber kontinuierlich."
Netzwerk aus Ehrenamtlichen
Die Berichte aus Mainz decken sich mit den Erfahrungen von Frank Bowinkelmann in Köln. Er ist im Vorstand von Foodsharing Deutschland und gehört zu den Gründungsmitgliedern. "Wir verteilen die Lebensmittel unter anderem an Abholstationen. Wir wissen im weiteren Verlauf gar nicht so genau, wer da was wann abholt", so Bowinkelmann. "Wir kooperieren aber regional eng mit den Tafeln. Dort reicht das Lebensmittelangebot vor Ort oft nicht mehr aus. Wir geben dann Hinweise auf unsere Verteilerschränke. Die Nachfrage und auch die Not sind 2022 nach unserem Eindruck gestiegen - wegen der Inflation und wegen der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine."
Der Foodsharing-Verein wurde vor zehn Jahren gegründet - eine echte Graswurzelbewegung. Seitdem haben sogenannte Foodsaver in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach eigenen Angaben mehr als 82 Millionen Kilogramm Lebensmittel vor dem Müll gerettet.
Ein Netzwerk aus Ehrenamtlichen ist die Basis der Initiative. Diese holen die Lebensmittel von teilnehmenden Betrieben in der jeweiligen Region ab und bringen sie zu sogenannten "Fairteilern". Das funktioniert bundesweit in immer mehr Städten. Nach eigenen Angaben verbindet die Plattform bundesweit 136.000 Freiwillige.
Verteiler-Tour durch Mainz
Marie-Theres Hohenner ist inzwischen an der Kita der evangelischen Auferstehungsgemeinde angekommen. Der Koch nimmt die Stiegen mit Obst und Gemüse mit einem Lächeln entgegen und bringt sie in die Küche.
Auch Pfarrer Jens Martin Sautter freut sich über die Lieferung. Die Kita müsse wegen steigender Preise inzwischen auf ihre Kosten achten. "Es ist natürlich eine Win-Win-Situation. Wir wollen nicht, dass Sachen weggeschmissen werden und wir müssen unsere Kosten gering halten. Was nicht in der Küche verarbeitet wird, verteilen wir an die Eltern weiter. Auch in der Kirche bieten wir die Lebensmittelspenden an. Am Abend sind die Boxen immer leer."
Der Koch in der Kita der evangelischen Auferstehungsgemeinde nimmt das Obst und Gemüse an
Für die Essensretterin geht es gerade hier in der Kita nicht nur im materielle Hilfe, sondern auch um ideelle Werte. "Die Kinder kriegen mit, dass man hier nicht so viel weg wirft. Sie lernen so auch von vornherein einen wertschätzenden Umgang mit Lebensmitteln."
Dann fährt Hohenner weiter in den Stadtteil Mombach - ein Arbeiterbezirk mit eher schwacher Sozialstruktur. Sie befüllt hier die sogenannten "Fairteilerschränke". In Mainz gibt es derzeit sechs Standorte. Eine Freundin hilft beim Befüllen. "Unser Angebot wird hier sehr gut angenommen - einerseits von denjenigen, denen das Thema Nachhaltigkeit wichtig ist. Andererseits kommen aber auch verstärkt Kunden, bei denen es immer knapper wird", erzählt Hohenner.
Schnell kommen die ersten Abholer
Die Schränke sind schnell mit Paprika, Salat und Karotten voll. Jetzt tippt Hohenner eine Nachricht in die Foodsharing-Gruppe von Mombach ein, dass es gerade eine neue Lieferung gibt. Schon nach wenigen Minuten kommen die ersten Abholer. Darunter vor allem Jüngere, die Ressourcen schonen wollen.
Als es am späten Nachmittag dunkel wird, kommen auch ärmere Menschen. Alle wollen anonym bleiben, kaum über ihre schwierige Lage reden - bis auf einen älteren Herren. "Alles wird teurer. Es ist wesentlich schwieriger geworden", erzählt er. "Als Rentner habe ich nicht so viel, als dass ich mir ständig etwas holen könnte. Das ist eine tolle Sache hier, die mir auch persönlich hilft. Auch viele andere sind sehr dankbar, dass sie sich hier etwas kostenlos nehmen können."