EM-Spiel Deutschland-Ungarn Nur wenige sichere Orte für queere Fans
Die queere Community blickte mit Besorgnis auf das gestrige Spiel gegen Ungarn bei der Fußball-Europameisterschaft. Denn die ungarischen Ultras sind für ihre homophoben Angriffe bekannt.
Auf dem Rasenplatz in Stuttgart Vaihingen fällt ein Tor. Jubel schallt durch das Wohnviertel. Ganz normaler Fußball eben. Bis auf die Tatsache, dass das wöchentliche Training für die Menschen hier mehr ist als nur Sport. Es ist für sie ein Schutzraum.
"Ich kann hier als queere Person frei spielen", erklärt Tanja Rademacher. "In anderen Sportvereinen fühlt man sich eher so, als ob man sich verstecken muss." Im Stuttgarter Sportverein "Abseitz" finden queere Personen einen "Safe Space" - einen Ort, an dem sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität nicht diskriminiert werden.
Keine Selbstverständlichkeit, vor allem im Sport und erst recht im Fußball. Allerdings hätten queere Frauen es dort etwas besser als queere Männer. "Ich glaube, bei den Männern ist es tatsächlich ein Problem", meint Tanja Rademacher. "Fußballer werden so als Helden dargestellt, sind stark, pure Männlichkeit. Und dazu gehört halt nicht Schwulsein. Das ist verpönt und wird als Schwäche gesehen."
Klassische Männlichkeitsrituale
Ähnlich sieht das auch Harald Lange, Sportwissenschaftler an der Universität Würzburg. "Fußball ist historisch gesehen als Männerdomäne mit klassischen Männlichkeitsvorstellungen und -ritualen gewachsen und da passt so ein homophobes Gedankengut sehr gut hinein", so Lange.
Seit dem Coming-out etwa von Thomas Hitzelsperger werde das Thema allerdings sehr offen diskutiert und finde viel Solidarität - zumindest in Deutschland. Bei Teilen der ungarischen Fans hingegen scheinen Fußball und Homosexualität immer noch etwas zu sein, das nicht zusammengehört, nicht zusammengehören darf.
Vor dem Spiel Deutschland-Ungarn war deshalb nicht nur die queere Szene, sondern auch die Stuttgarter Polizei in Alarmbereitschaft. 2.500 Polizisten sollten die Innenstadt absichern, dafür sorgen, dass es nicht zu Ausschreitungen kam. Auch nicht zu homophoben, denn dafür sind vor allem die Fans der ungarischen "Carpathian Brigade '09", die in Stuttgart auch vertreten waren, bekannt.
Ultra-National und erzkonservativ
Die "Carpathian Brigade" gilt als ultranational und erzkonservativ. Mit rassistischen, sexistischen und homophoben Sprechchören sorgten die 500 bis 1.000 Männer in schwarzen Hosen und schwarzen Shirts bei Spielen ihres Nationalteams in der Vergangenheit immer wieder für Schlagzeilen.
Bei der EM 2021 fielen die Männer in Schwarz bereits auf: "Deutschland, Deutschland homosexuell" skandierten sie damals im Münchner Stadion, traten extrem aggressiv auf. Die Polizei musste einen Blocksturm verhindern.
Sportwissenschaftler und Fußballfanforscher Lange warnt davor, alle ungarischen Fans über einen Kamm zu scheren. Die Mehrheit sei absolut friedlich.
Die Stuttgarter Polizei bereitete sich dennoch sehr intensiv auf das Risikospiel Deutschland-Ungarn vor und machte bereits im Vorfeld klar, man werde diskriminierende Äußerungen nicht dulden: "In den UEFA Safety and Security Regulations ist der Umgang mit politischen, provozierenden oder rassistischen Störungen geregelt. Für solche Szenarien gibt es ein Interventionskonzept der UEFA. Strafrechtlich relevante Sachverhalte werden von uns konsequent verfolgt", hieß es aus Sicherheitskreisen.
Umgang mit Hasskriminalität
Thomas Ulmer hat noch einen etwas anderen Blick auf das Spiel Deutschland-Ungarn. Er ist Polizeibeamter und im Bundesvorstand von VelsPol, dem Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter in Deutschland. Seit 30 Jahren engagiert er sich bei VelsPol dafür, Polizeibeamte im Umgang mit Hasskriminalität zu schulen.
Vieles habe sich bereits verbessert, die Beamten seien sensibler geworden im Umgang mit Menschen anderer sexueller Orientierung und Identität, sagt Ulmer. Doch aus der Gesellschaft schlage ihm immer noch Homophobie entgegen - als Polizeibeamter und als queerer Mensch.
"Letztes Jahr habe ich eine Erfahrung gemacht, wo ich als Polizist von Polizeibeamten geschützt werden musste", erzählt Ulmer. Als er in Bayern eine Rede hielt, wurde er aus der Zuschauermenge heraus verbal angegriffen. "Das hat mir zu denken gegeben, wie sich unsere liberale Gesellschaft geändert hat. Deshalb sehe ich etwas pessimistisch in die Zukunft."
Am Tag des Risikospiels Deutschland-Ungarn kreisten Hubschrauber über Stuttgart. Die Polizei war mit mehreren Tausend Beamten im Einsatz. Die Fanzone in der Innenstadt wurde kurz vor Spielbeginn geschlossen - das Limit von 30.000 Zuschauern war erreicht.
Public viewing im Safe Space
Auch Tanja Rademacher und ihr Team vom queeren Sportverein "Abseitz" wollten das Match nicht verpassen. Auf den Stuttgarter Schlossplatz jedoch trauten sie sich nicht. Sie saßen nicht weit entfernt im "White Noise", einem Club, der für seine queerfreundliche Atmosphäre bekannt ist. Ein sicherer Raum für die Fußballfans, denen die Stimmung auf der zentralen Fanmeile und vor allem der homophobe Ruf der ungarischen Ultras nicht geheuer ist.
"Es ist schon komisch, dass Leute wirklich denken, Homosexualität sei die größte Bedrohung für sie", sagt eine Spielerin. Vorsichtiger seien sie alle bei so großen Veranstaltungen, wenn so viele Menschen unterwegs seien. Händchen haltend würden sie an diesem Abend nicht durch die Stadt gehen.
Im "White Noise" können die Fußballerinnen vom Verein "Abseitz" in Ruhe das Spiel gegen Ungarn gucken.
Auch Fußballerin Tanja Rademacher meint: "Jetzt, wo ich weiß, wie manche ungarische Fans drauf sind, werde ich etwas wachsamer sein, wenn ich heute nach Hause gehe. Aber Angst habe ich nicht."
Diese Einstellung sei genau die richtige, meint Thomas Ulmer vom Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter. Er warnt davor, sich zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit und queerfeindlichen und homophoben Stimmungsmachern das Feld zu überlassen.
"Einen hundertprozentigen Schutz wird es nie geben", so Ulmer. "Aber ich würde niemandem raten, Räume zu meiden. Wir müssen als queere Menschen unsere Positionen verteidigen, die wir in 40 Jahren geschaffen haben und dürfen uns nicht zurückziehen.“