Holocaust-Gedenktag "Es tut ein ganzes Leben weh"
Eva Szepesi hat Auschwitz überlebt. Heute erzählt sie davon im Bundestag. Dort sprechen wird auch der Sportjournalist Marcel Reif. Er erfuhr erst nach dem Tod seines Vaters dessen Geschichte.
Berlin A26877 - diese Nummer vergisst Eva Szepesi nie. Es ist die Häftlingsnummer aus Auschwitz, tätowiert auf den linken Unterarm. Eva Szepesi ist heute 91 Jahre alt. Die Nummer ist verblasst, aber immer noch zu sehen. Szepesi ist eine der wenigen, die noch erzählen können von der Hölle von Auschwitz. Sie erinnert sich genau an ihre letzten Tage dort im Januar 1945. "Ich war wie ein Skelett. Und die haben gedacht, ich bin tot."
Eva Szepesi ist damals zwölf Jahre alt. In einem Interview mit dem SWR erzählt sie, wie die Todesmärsche das Vernichtungslager verließen. Die Rote Armee ist nicht mehr weit entfernt. Doch sie ist zu schwach und bleibt zwischen den Toten liegen. Noch heute sieht sie ein Bild vor sich: ein sowjetischer Soldat mit Pelzmütze. "Er hat mich angelächelt. Und ich habe die Augen aufgemacht. Und es hat gutgetan."
Was Eva Szepesi damals noch nicht weiß: Sie wird Mutter, Vater und Bruder nicht wiedersehen. Sie alle wurden ermordet. Die Familie stammt aus Ungarn, erst im November 1944 wird Szepesi mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz deportiert. Allein - ohne Mutter, Vater und Bruder. Sie überlebt als Einzige.
"Ich habe erzählt und erzählt"
Eva Szepesi geht nach dem Krieg nach Deutschland, widerwillig ins Land der Täter. Sie bekommt Kinder, gründet eine eigene Familie. Aber über das, was ihr passiert ist, spricht sie 50 Jahre lang nicht.
Bis 1995, als sich die Befreiung von Auschwitz zum fünfzigsten Mal jährt und sie zur Gedenkfeier eingeladen ist. Sie zögert und fährt schließlich hin. "Und es hat gesprudelt. Ich habe erzählt und erzählt. Am Ende haben meine zwei Töchter mich in den Arm genommen. Und haben gesagt, wir hören das erste Mal, Mutti, von deiner Geschichte."
Auch Sportjournalist Marcel Reif spricht heute im Bundestag.
Einer, der nie die Geschichte seines Vaters gehört hat, ist Marcel Reif. Der bekannte Sportreporter fragt nicht, "weil ich Angst hatte, Dinge zu hören, was man meinem großen, starken Vater angetan hat". Leon Reif, ein polnischer Jude, wird von den Nazis verschleppt und unter glücklichen Umständen gerettet. Er leidet danach unter Depressionen. Aber den Grund dafür erfährt sein Sohn Marcel erst nach dem Tod seines Vaters.
Er ist ihm dankbar, weil er so eine fröhliche Jugend und Kindheit hatte, sagt Reif. "Mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich als Wirtschaftswunder-Nachkriegswohlstands-Jüngling nasebohrend fröhlich durch die Welt tänzeln konnte. Und das wollte er."
"Entgegentreten und nicht schweigen"
Heute geht es darum, zu erzählen. Reif und Szepesi sprechen im Bundestag zur Holocaust-Gedenkstunde.
Marcel Reif fühlte sich erst überfordert. Denn er fragte: Wie kann er für seinen Vater sprechen? Bundestagspräsidentin Bärbel Bas überzeugte ihn, dennoch zu kommen.
Und Eva Szepesi sieht es mittlerweile als Pflicht, zu erzählen. Gerade jungen Menschen gibt sie in einer ARD-Dokumentation eine klare Botschaft mit auf den Weg: "Wenn ihr Ungerechtigkeit erlebt oder seht, entgegenzutreten und nicht zu schweigen. Und immer alleine denken."
Beide treffen auch Jugendliche, die nach Berlin gekommen sind. Gespräche wie diese sind wichtig, um die Erinnerungen der Zeitzeugen weiterzutragen - wenn bald niemand mehr da ist, der aus erster Hand erzählen kann.
Anna Vollhardt aus Mainz ist 22 Jahre alt. Sie studiert und arbeitet in der Bildungsstätte Anne Frank. Dass sie heute eine Überlebende wie Eva Szepesi trifft, findet sie sehr, sehr wichtig. Sie sei froh, dazu noch die Möglichkeit zu haben, sagt sie. "Vielleicht kann man dadurch das auch noch mal besser weitertragen an die Generationen, die später noch kommen."
"Nie wieder" als Tatsache
Marcel Reif erzählt, dass er Gedenktage nicht braucht. Aber das Land braucht sie, meint er. Er spricht über die Demonstrationen, die die Terroranschläge der Hamas gefeiert haben: Antisemitismus in Deutschland auf offenen Straßen. Sein Vater müsse im Grab rotiert haben.
"'Nie wieder' ist kein Appell. Das ist auch keine Mahnung. Da ist mir viel zu viel Spielraum drin", so Reif. "'Nie wieder' ist eine Tatsache und sonst nichts - und zwar keinen Millimeter verrückbar."
Der Wunsch, dass es "nie wieder" passiert, treibt auch Eva Szepesi an. Niemals soll wieder geschehen, "dass man euch einfach eine Mutter wegnimmt. Und einen Bruder, Vater. Weil das tut ein ganzes Leben weh." Gerade deshalb möchte sie erzählen, so lange sie es noch kann.