Sinkende Geburtenrate Viele Krisen, weniger Kinder?
Klimawandel, Krieg in Europa und wirtschaftliche Unsicherheiten - sind das die Gründe für die erneut niedrige Geburtenrate in Deutschland? Es gibt auch noch weitere Erklärungen.
Für die Klimaaktivisten und Veganer Ayla und Lito aus Bonn und Judie aus Aachen kommt es nicht in Frage, in diese Welt Kinder zu setzen. Sie haben keine Kinderwünsche.
Wenn sie sich Kinder wünschten, würden sie, aufgrund der aktuellen Krisen, trotzdem keine bekommen. Lito und Judie sind sterilisiert. Ayla hat ihren Sterilisationstermin schon ausgemacht. Sie sagen, dass man es Kindern nicht zumuten könne, noch weitere Pandemien oder Ressourcenkriege zu überstehen.
Kein Kinderwunsch angesichts von Krisen: Ayla, Judie und Lito (von links)
Niedrigste Geburtenrate seit 2009
So wie die Klimaaktivisten haben sich auch viele andere Menschen in Deutschland gegen Kinder entschieden. Mit 1,36 Kindern pro Frau liegt die vorläufige Geburtenrate im Jahr 2023 so niedrig wie seit 2009 nicht mehr. Die vorläufigen Hochrechnungen für das erste Quartal in 2024 zeigen keine Trendwende.
Experten und Expertinnen sehen einen Zusammenhang zwischen sinkender Geburtenrate und der aktuellen Weltlage. "Durch die derzeitigen multiplen Krisen überdenken viele Menschen nochmal die Familienplanung. Einige schieben ihren Kinderwunsch zumindest erstmal auf", sagt Sabine Diabaté, Forscherin am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, die dort die Forschungsgruppe Familie leitet.
Unterschiedliche Verunsicherungseffekte
Sie gibt ein Beispiel: In der Coronazeit hätte die Wahrnehmung überwogen, dass es erst einmal besser sei, keine Kinder zu bekommen. Hier spielten laut der Expertin unterschiedliche Verunsicherungseffekte eine Rolle, zum Beispiel die Fragen nach Impfungen, aber auch, wie sich insgesamt alles weiterentwickeln würde.
Dadurch, dass direkt anschließend der russische Angriffskrieg auf die Ukraine begann und damit Energiekrise und Inflation ausgelöst wurden, entstanden neue Szenarien der Bedrohung.
Sabine Diabaté ist Forscherin am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und Leiterin der Forschungsgruppe Familie in Wiesbaden.
Die Nähe der Krise ist entscheidend
"Je unmittelbarer Menschen von einer Krise betroffen sind, desto stärker ist ihr Einfluss", sagt die Expertin. Für Ayla, Lito und Judie fühlen sich die Klimakatastrophe und ihre Folgen unmittelbar an. Damit gehören sie laut Diabaté aber nicht zum Mainstream.
Die Klimakrise sei für viele abstrakter. Bei deutlich mehr Menschen fallen beispielsweise spürbare ökonomische Faktoren viel stärker ins Gewicht bei der Familienplanung. Dazu zählen nach Angaben der Expertin unter anderem bezahlbarer Wohnraum, ein sicherer Arbeitsplatz oder steigende Kosten für Einkäufe. Sobald hier die Unsicherheit zunimmt, spiegelt sich das in Deutschland, aber auch in anderen Ländern wie beispielsweise in Italien in der Geburtenrate wider.
Die genannten Krisen sind allerdings, so Diabaté, nur ein Faktor für die aktuell niedrige Geburtenrate. Es gäbe mindestens noch zwei weitere relevante "Krisen": eine "strukturelle" und eine "Matching-Krise".
Kein passender Partner für die Familiengründung?
Im ersten Schritt spielt für einige die "Matching-Krise" eine Rolle. Wenn man sich Einstellungen von Frauen und Männern anschaut, sieht man, dass viele Männer traditioneller eingestellt als Frauen. Dabei geht es zum Beispiel um Gleichberechtigung. Laut Sabine Diabaté führt dieses "Mismatching" dazu, dass viele keinen passenden Partner für eine Familiengründung finden.
Das spiegelt sich auch in den Zahlen zu ungewollter Kinderlosigkeit wider: Nach einer repräsentativen Umfrage des Bundesministeriums für Familie, Senioren Frauen und Jugend zum Thema "Ungewollte Kinderlosigkeit 2020" sind 32,3 Prozent der kinderlosen Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren ungewollt kinderlos. Das sind 6 Prozent mehr als noch 2013. Im Milieu der "Etablierten" mit größtenteils akademischer Bildung sind 40 Prozent der ungewollt kinderlosen Frauen alleinstehend.
Dass es viele Kinderwünsche gibt, zeigen auch die steigenden Zahlen von Babys durch künstliche Befruchtungen in Deutschland: 1997 waren es 6.577 Kinder, 2020 schon 22.209. 2022 wurden 67.000 Frauen behandelt. Das geht aus dem deutschen IVF-Register hervor. Je nach Methode liegt die Chance bei 15 bis 45 Prozent.
Ist das "Partnermatching" geschafft, bedeutet es trotzdem nicht, dass Paare alle Kinderwünsche umsetzen - auch wenn es biologisch noch möglich wäre. Das liegt nach Einschätzung von Sabine Diabaté daran, dass einige Paare nach dem ersten oder zweiten Kind von der Realität eingeholt werden. Spätestens hier spielt für viele Paare die "strukturelle Krise" eine tragende Rolle.
Die Infrastruktur stimmt für viele nicht
Unter der strukturellen Krise versteht die Expertin vor allem die aktuelle Betreuungssituation, die viele Eltern im Kita-Alter und später in der Schule vor große Herausforderungen stellt und so auch die Familienplanung beeinflusst.
Das sieht auch SPD-Bundestagsabgeordnete Jasmina Hostert so. Sie sagt: "Das Wichtigste ist die Infrastruktur - vor allem für die Frauen." Viele Frauen sind laut der SPD-Politikerin, die im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sitzt, heute top ausgebildet und wollen ihre Karriere nicht aufgeben. Wenn sie Mutter werden, haben sie aber das Gefühl, in eine Rolle gedrängt zu werden, in der alles, was sie vor der Mutterschaft gemacht haben, nichts mehr zählt.
"Das Wichtigste ist die Infraktruktur", sagt Jasmina Hostert, SPD-Bundestagsabgeordnete.
Schaut man in die Zahlen, sieht man, dass 67 Prozent der Mütter und nur 9 Prozent der Väter laut dem Statistischen Bundesamt in Teilzeit arbeiten. Für die SPD-Politikerin ist klar: Nur wenn Eltern - und eben vor allem Frauen - wissen, dass ihre Kinder sowohl im Kita-Alter als auch später in der Schule ganztags versorgt sind, können Eltern entspannt Vollzeit arbeiten gehen. Das kommt dann allen zugute: dem Kind, den Eltern und der Wirtschaft.
So sollen sich die Rahmenbedingungen verbessern
Um das zu erreichen, hofft Jasmina Hostert, dass das Kita-Qualitätsentwicklungsgesetz, das aktuell in der Planung für den Haushalt 2025 mit zwei Milliarden Euro steht, durchkommt und so die Betreuungssituation weiter verbessert werden kann.
Für Schulkinder kommt außerdem ab 1. August 2026 nach und nach ein gesetzlicher Anspruch auf die Ganztagsbetreuung, so Hostert. Wobei es jetzt schon Stimmen aus den Kommunen gebe, dass das Geld teilweise dreifach überzeichnet sei.
Für Diabeté erklären all diese Krisen ein Stück weit die Kluft zwischen den vorhandenen Kinderwünschen und den tatsächlich realisierten Kindern. In Deutschland wünschen sich nämlich Frauen im Durchschnitt 1,9 Kinder, die vorläufige Geburtenrate liegt aktuell bei 1,36 Kindern pro Frau.
Es ist also noch einiges zu tun, um die Rahmenbedingungen zum Kinderkriegen in Deutschland so zu gestalten, dass sich alle Paare entspannt für ein oder mehrere Kinder entscheiden.