Minderjährige Flüchtlinge Ein Zimmer für Farzam
Im vergangenen Jahr sind zweieinhalb Mal so viele minderjährige Geflüchtete nach Deutschland gekommen wie 2021. Viele Städte und Kommunen sind völlig überfordert. Eine Stiftung in Freiburg sucht nach Lösungen.
Eine schräge Wand über dem Bett, ein Stuhl, ein Fernseher, eine Dusche - das neue Zuhause von Farzam Hussaini ist klein, aber immerhin hat er sein eigenes Zimmer. Er würde es gern mit seiner Familie teilen, doch er ist ganz allein geflohen.
"Am Anfang war es sehr schwer für mich. Ich vermisse meine Familie und jemanden, der hinter mir steht", erzählt der 17-Jährige. Mittlerweile sei es etwas besser. "Ich habe gemerkt, dass man sich hier um mich kümmert." Man, das ist die "timeout Stiftung" in St. Märgen nahe Freiburg, eine gemeinnützige GmbH von Menschen, die sich in der Kinder-, Jugend- und Altenhilfe engagiert.
Aus seiner Heimat Kabul in Afghanistan hat Farzam nichts mitnehmen können. Das Einzige, was ihm gehört, sind die Kleider, die er bei seiner Flucht anhatte. So wie ihm geht es den meisten hier. Aktuell sind 16 Jugendliche in dem ehemaligen Hotel der "timeout Stiftung" untergebracht.
"Wichtiger als Urlaub im Schwarzwald"
Das Hotel wurde im November dauerhaft geschlossen, um Platz für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu schaffen. "Das ist jetzt wichtiger als Urlaub im Schwarzwald", sagt Geschäftsführer Daniel Götte. Die Plätze und ihre Arbeit für die Minderjährigen bekommt die Stiftung von der Kommune bezahlt.
Gerade erst sind drei Jungen angekommen. Einer musste direkt zum Zahnarzt gebracht werden. Götte erzählt: "Die Minderjährigen, die hier ankommen, haben teilweise eine monatelange Flucht hinter sich, ohne geeignete Kleidung, ohne medizinische Versorgung, mit zu wenig Essen. Viele haben psychische und physische Gewalt erlebt." Laut dem baden-württembergischen Sozialministerium kommen hauptsächlich Jungen, die meisten sind zwischen 14 bis 18 Jahre alt.
Kaum Wohnmöglichkeiten
In ganz Deutschland spitzt sich die Lage seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine vor einem Jahr zu. Städte und Gemeinden sind am Limit, was die Aufnahme von Geflüchteten angeht.
Bundesweit gibt es für 2022 noch keine Zahl, wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Aber allein in Baden-Württemberg waren es dem Sozialministerium zufolge 3180 - zweieinhalb Mal so viele wie noch 2021.
Vor allem die Unterbringung macht den Kommunen Probleme. Zentrale Erstaufnahmestellen wie bei den Erwachsenen sind nicht erlaubt. Die Minderjährigen werden direkt vom Jugendamt betreut. Für jeden einzelnen muss ein Platz gefunden werden.
Doch Plätze sind rar. Unterkünfte, wie sie die "timeout Stiftung" anbietet, sind eine seltene Ausnahme. Geschäftsführer Götte sagt, kurzfristig könne man auch mal mit Turnhallen die Notlage auffangen. "Aber wir müssen langfristig denken. Diese jungen Menschen brauchen alle adäquaten Wohnraum. Der fehlt. Den müssen wir schaffen."
Das liege auch daran, dass die Städte und Kommunen Plätze immer wieder abgebaut hätten, beklagt die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und fordert deshalb ein Basiskontingent an Unterbringungsmöglichkeiten, damit in Krisensituationen nicht alles wieder neu geschaffen werden muss.
Zu wenig Personal
Die zweite Schwierigkeit sei der Mangel an Betreuern. Unter anderem in Baden-Württemberg wurden deshalb die Standards abgesenkt. Nachts muss kein Pädagoge mehr vor Ort sein, Sicherheitskräfte reichen aus. Die IGfH warnt: Das könnte unmittelbar zur Diskriminierung von jungen Menschen führen, die einen besonders hohen Bedarf an Unterstützung haben.
Götte von der "timeout Stiftung" hält es nur für eine Notlösung, aber immerhin eine pragmatische: "Es ist einfach nicht genügend Fachpersonal da." Er wünscht sich eine flexiblere Gestaltung der Jugendhilfe. "Lasst uns gut integrierte Menschen aus den Ländern, aus denen die geflüchteten Jugendlichen kommen, mit in die Fachteams einbinden, möglichst barrierefrei. Dann funktioniert es", sagt er. Man müsse sich davon verabschieden, nur geprüftes Personal mit langer Ausbildung einzustellen.
Bei der "timeout Stiftung" haben sie damit bereits gute Erfahrungen gemacht. Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft die Kultur, das Denken, das Rollenverständnis der minderjährigen Flüchtlinge besser verstünden, könnten Probleme oft lösen, bevor sie groß werden, erklärt Götte.
Die beiden Köche in St. Märgen stammten aus dem Iran und aus Gambia. "Auch das ist hilfreich. Vertrautes Essen bedeutet auch schon ein Stückchen Heimat", ergänzt er. Wichtig für das Ankommen und für ein Gefühl von Sicherheit seien außerdem feste Strukturen und ein gutes Bildungsangebot.
Möglichst schnell Deutsch lernen
Farzam sitzt mit neun anderen Jungen am Tisch, Deutschstunde. Ein Ball fliegt kreuz und quer, wer ihn fängt ist an der Reihe: "Ich heiße Farzam. Wie viel Uhr ist es? Ich bin müde." Immer wieder fällt der Satz "Ich komme aus Afghanistan". Besonders viele minderjährige Geflüchtete stammen von dort, außerdem kämen viele aus dem Irak und Syrien, so das baden-württembergische Sozialministerium.
In St. Märgen bekommen sie Unterricht - neben Deutsch auch in Mathe. Den geben bei der Stiftung nicht nur ausgebildete Lehrkräfte, sondern auch Helferinnen und Helfer, die Vorerfahrung mitbringen.
Anfangs haben alle Geflüchteten gemeinsam Unterricht. Danach werden sie in Gruppen eingeteilt, je nach Kenntnisstand. "Die sind alle wissbegierig und wollen gerne am Unterricht teilnehmen", sagt Masoud Farhatyar, der zuständige Flüchtlingskoordinator. Farzam hat sich vorgenommen, Deutsch in den nächsten zwei Monaten so gut zu lernen, dass er allein zurechtkommt.
Große Umverteilung
Wie schwer es für die Kinder und Jugendlichen selbst hier, mit eigenem Zimmer und guter Betreuung ist, schwingt in jedem Satz mit. Auf die Frage, ob es ihm hier gefällt, antwortet Farzam: Hier gefalle es ihm sehr gut, aber es sei nicht seine eigene Stadt und am liebsten wäre er eigentlich dort. Er musste aber weg.
Möglicherweise muss er auch St. Märgen bald verlassen. Zurzeit läuft noch eine große Umverteilung, die Minderjährigen werden nach einem bestimmten Schlüssel auf die Kommunen verteilt. Langfristig soll das Hotel aber ein festes Zuhause werden, erklärt Götte: Vom Zeitpunkt ihrer Ankunft, bis die Minderjährigen erwachsen sind. Ob das auch schon für Farzam klappen könnte, sei leider ungewiss.