Anschlag in Magdeburg "Hinweise, dass Dinge nicht richtig gelaufen sind"
Der mutmaßliche Attentäter von Magdeburg passe nicht in bekannte ideologische Muster, sagt Terrorismusexperte Peter Neumann. Auch deshalb könnte er den Behörden nicht aufgefallen sein, obwohl es Warnzeichen gegeben habe.
tagesschau: Ein Islamkritiker, der seinen Anschlag ausgerechnet nach einem Muster durchführt, das man sonst eben von Islamisten kennt. Wie passt das zusammen?
Peter Neumann: Es passt überhaupt nicht zusammen. Das ist das Problem. Wir haben hier einen Attentäter, der 50 Jahre alt ist - schon das ist ungewöhnlich -, der aus Saudi-Arabien kommt, sein Land verlässt, sich gegen seinen eigenen Staat stellt.
Der Ex-Muslim wird, militanter Atheist, zum Islamhasser wird, aber dann eben keinen Anschlag auf Muslime macht, sondern einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt. Das passt nicht zusammen. Und möglicherweise liegt die Antwort nicht nur in der Motivation, sondern auch in seinem Geisteszustand. Das vermag ich momentan nicht zu beurteilen. Das werden Psychiater jetzt feststellen müssen.
Gott sei Dank ist er noch am Leben. Das bedeutet, man kann eben viele Dinge noch herausfinden, was nicht möglich gewesen wäre, wenn er erschossen worden wäre. Und ich denke, das müssen die nächsten Tage und Wochen jetzt klären.
Eines steht allerdings meiner Meinung nach schon fest, nämlich, dass er kein Islamist war. Darauf gibt es tatsächlich auf seinen Accounts in den sozialen Medien, unter dem er in den letzten sechs oder sieben Jahren geschrieben und sich geäußert hat, keinerlei Hinweis und deswegen passt das auch nicht mit der Methode des Anschlags zusammen.
"Islamhasser, der selbst muslimischen Hintergrund hatte"
tagesschau: Sie haben es angesprochen: Der Mann war in sozialen Medien aktiv, hat sich offenbar geäußert und sogar gedroht. Wie erklären Sie sich, dass er den Sicherheitsbehörden offenbar trotzdem nicht aufgefallen war oder sie ihn nicht als gefährlich eingestuft hatten?
Neumann: Ich glaube, das muss man aufarbeiten. Ich denke, zum einen: Er hat in kein Schema gepasst. Er war ein Islamhasser, der selbst einen muslimischen Hintergrund hatte. Das passt schon mal nicht zusammen. Der damit gedroht hat, er möchte einen Weihnachtsmarkt angreifen. Auch das passt nicht, wenn er denn kein Islamist ist.
Und dann kam natürlich dazu, dass es offensichtlich Warnhinweise gab, sowohl von ausländischen Regierungen als auch von Mitgliedern der Öffentlichkeit, die entweder nicht richtig bearbeitet oder die schlicht und einfach ignoriert wurden.
Also es gab offensichtlich eine Bekannte von ihm, die sich an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gewandt hat, die vom BAMF eine Standardantwort bekommen hat. Der wurde gesagt: 'Wir sind die falsche Stelle, wenden Sie sich an jemand anders' und dadurch ist das Ganze versackt.
Das kann natürlich nicht sein und deswegen müssen wir uns trotz dieses tragischen Vorfalls ganz genau anschauen: Was ist passiert? Was können wir aus diesem Vorfall lernen? Wie können wir unsere Trefferquote, die Wahrscheinlichkeit, dass terroristische Anschläge verhindert werden, erhöhen? Die wird niemals bei 100 Prozent sein, aber es gibt immer noch Luft nach oben. Und dieser Fall hat schon einige Hinweise darauf, dass da Dinge nicht richtig gelaufen sind.
Deutschland mehrere Male den Krieg erklärt
tagesschau: Das heißt also, wenn ich Sie richtig verstehe, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hätte in dem Fall den Staatsschutz in irgendeiner Form informieren müssen. Aber um das nun noch mal klar zu sagen und zu verstehen: Ist es also tatsächlich so, dass dieser Mann explizit vor einem Anschlag oder mit einem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt gedroht hatte?
Neumann: Na ja, das berichtet die Frau, die ihn gemeldet hat beim BAMF. Ob das tatsächlich so war, vermag ich nicht zu beurteilen. Sie hat auf jeden Fall keine ordentliche Antwort bekommen. Was der Verdächtige schon getan hat, das wird auch aus seinen Beiträgen in den sozialen Medien ganz offensichtlich, ist, dass er Deutschland zum Beispiel mehrere Male den Krieg erklärt hat.
Nicht, weil Deutschland Muslimen gegenüber vermeintlich unfreundlich wäre. Sondern im Gegenteil, weil er geglaubt hat, dass Deutschland die Islamisierung ganz Europas vorantreibe und viel zu freundlich ist gegenüber dem Islam in Anführungszeichen.
In diese Richtung hat er sich schon mehrfach geäußert und es war auch klar, wenn man die ganzen Tweets und Posts jetzt verfolgt, dass das im Laufe der Zeit extremer wurde und auch konkreter wurde in dem Sinne, dass er ganz konkret gesagt hat: Ich möchte etwas tun. Und das ist natürlich immer schon ein Warnzeichen. Das eine Warnzeichen ist, über eine extreme Ideologie zu sprechen. Das andere ist, anzukündigen, dass man tatsächlich etwas Gewaltsames tun möchte.
Islamistisches Motiv fast sicher auszuschließen
tagesschau: Lässt sich denn aus denen, die ihm in den sozialen Medien folgen, irgendwie ableiten, in welchem Umfeld sich das Ganze bewegt? Zu welchem Kreis, zu welcher Community das Ganze gehört?
Neumann: Also da habe ich jetzt noch keine systematische Analyse durchgeführt. Es ist ganz offensichtlich so, dass ihm durchaus einige Leute gefolgt sind, die aus eigentlich eher rechten oder rechtsradikalen, rechtsextremen Kreisen kommen. Die sich ganz offensichtlich für ihn interessiert haben, weil er eben ein Ex-Muslim ist. Einer, der aus Saudi-Arabien kommt und der den Islam sehr, sehr scharf kritisiert hat.
Der auch in einem Posting gesagt hat, dass die AfD die einzige Partei sei, die eigentlich etwas gegen den Islam tun würde und deswegen würde er diese Partei unterstützen. Also da ist schon viel drin, was in eine ganz andere Richtung geht, als man sich das bei einem Islamisten vorstellen würde. Deswegen sage ich noch mal: Ich möchte nichts ausschließen. Aber eines kann man fast sicher ausschließen, nämlich dass das ein IS-Unterstützer oder Islamist war.
Attentäter stellen sich eigene Ideologie zusammen
tagesschau: Aber gerade wenn Sie sagen, dieser Fall passt nicht ins Raster, ins Schema. Inwieweit zeigt das auch, dass die Sicherheitsbehörden vielleicht den Blick für mögliche Gefährder weiten oder verändern müssen, weil die üblichen Muster eben nicht unbedingt immer passen?
Neumann: Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Hinweis. Das beobachten wir in verschiedenen Ländern schon seit einigen Jahren. Je mehr Einzeltäter es gibt, die sich häufig auch auf sich allein gestellt im Internet radikalisieren, desto kreativer wird mit Ideologien gearbeitet. Und deshalb sehen Sie immer wieder, immer häufiger auch Attentäter, die sich selbst sozusagen ihre eigene Ideologie zusammenstellen. Die in verschiedenen Subkulturen online aktiv sind und die sich verschiedene Elemente zusammenbasteln, die möglicherweise gar nicht so ganz gut zusammenpassen.
Also hier hat schon so eine Art Ermächtigung des Individuums stattgefunden und etwas von dieser ideologischen Orthodoxie ist verloren gegangen, die klassischerweise sichtbar war, wenn Leute in Gruppen aktiv waren. Ich glaube, dafür müssen wir unseren Horizont ein bisschen öffnen, auch die Sicherheitsbehörden. Dafür, dass eben nicht jeder Attentäter genau in das ideologische Muster passt, was man vielleicht aus den Textbüchern kennt, sondern dass Leute immer flexibler sich eigene Ideologien zusammenbauen.
Deswegen sage ich auch, dass dieser Anschlag nicht so sehr dem Breitscheidplatz 2016 ähnelt. Von der Methode her ja, aber von der Motivation des Attentäters ist er eigentlich dem Anschlag auf den Olympiapark im Juli 2016 in München ähnlicher. Da hatten wir ebenfalls einen Attentäter mit Migrationshintergrund, der sehr, sehr rechte Thesen vertreten hat und der im Prinzip einen rechtsextremen Anschlag verübt hat, obwohl er selbst gar nicht zu dieser Gruppe gepasst hätte.
"Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied"
tagesschau: Auch wenn es in Magdeburg die üblichen Betonpoller gegeben hat, war es vielleicht doch zu riskant, diese Lücken für Zufahrten in Kauf zu nehmen, auch mit Blick auf mögliche andere, anders motivierte Anschläge?
Neumann: Ja, natürlich, auf jeden Fall. Das weiß ja jeder. Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Und natürlich kann man überall diese Poller hinstellen. Wenn die dann aber an zwei, drei Stellen fehlen, aus welchen guten Gründen auch immer, dann wird das natürlich von einem potenziellen Attentäter identifiziert und dann ist im Prinzip der Weihnachtsmarkt nicht mehr geschützt. Darüber muss man nachdenken.
Und die Tatsache, dass dieser Anschlag auf genau identische Weise durchgeführt wurde wie der Anschlag vom Dezember 2016 am Breitscheidplatz, das hätte ganz sicher nicht passieren dürfen. Da wird man darüber sprechen müssen, die Städte, die Veranstalter dieser Weihnachtsmärkte, natürlich auch die Sicherheitsbehörden. Und man wird völlig neue Konzepte erarbeiten müssen, weil die Öffentlichkeit nach einem zweiten solchen Vorfall natürlich das Vertrauen in die Sicherheit dieser Weihnachtsmärkte verloren hat.
Und dieses Vertrauen gewinnt man nur zurück, wenn man ein wirklich überzeugendes neues Konzept vorlegt. Dazu haben die Veranstalter dieser Weihnachtsmärkte jetzt knapp ein Jahr Zeit. Aber dass da was passieren muss und dass da etwas schiefgegangen ist, ist glaube ich völlig offensichtlich.
Leicht erhöhte Gefahr durch Nachahmereffekt
tagesschau: Mehrere Städte erhöhen ja jetzt schon die Sicherheitsvorkehrungen oder schließen die Weihnachtsmärkte ganz. Wie groß ist die Gefahr für weitere Anschläge, dann vielleicht auch unter anderem mit islamistischem Hintergrund?
Neumann: Also grundsätzlich sage ich immer, dass Terrorismus natürlich ein sehr seltenes Ereignis ist und ich für mich persönlich würde mich nach wie vor trauen, auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen. Aber grundsätzlich gilt natürlich schon, dass gerade nach solchen Anschlägen die Anschlagsgefahr auch immer wieder steigt.
Das hat mit dem sogenannten Nachahmereffekt zu tun. Das ist in ganz vielen Studien dokumentiert, dass Terroristen sich auch Dinge von anderen Terroristen abschauen. Und wenn dann eben ein Anschlag passiert, der aus ihrer Sicht sehr erfolgreich ist, dann passieren Anschläge dieser Art eben auch häufiger.
Wir hatten zum Beispiel bis zum Juli 2016 fast überhaupt keine Anschläge mit Fahrzeugen. Dann kam der Anschlag in Nizza im Juli 2016, der sehr viele Menschen getötet hat. Das war natürlich aus terroristischer Sicht sehr effektiv. Und plötzlich hatten wir dann innerhalb von sechs Monaten fast ein Dutzend solcher Anschläge, darunter der Anschlag am Breitscheidplatz.
Das heißt, es gibt auch immer eine Gefahr, dass solche Anschläge dann nachgemacht werden, dass sie andere inspirieren. Das ist auch zum Teil die Absicht. Und deswegen glaube ich, ist die Gefahr tatsächlich momentan etwas höher.
Das Gespräch führte Kathrin Schlass, tagesschau24