1. FC Nürnberg Wie ein Verein seine NS-Zeit aufarbeitet
Mit der Aufarbeitung ihrer Nazi-Vergangenheit tun sich viele Sportvereine schwer. Auch beim 1. FC Nürnberg war es so - bis man 15 verstaubte Kisten im Keller fand.
Zu Beginn der Nazi-Herrschaft 1933 haben viele Fußballvereine jüdische Mitglieder ausgeschlossen. Mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte tun sich viele Clubs bis heute schwer, was auch an der oft mangelnden Datenlage liegt. Der 1. FC Nürnberg beleuchtet nun die NS-Zeit des Vereins und ihrer damals ausgeschlossenen jüdischen Mitglieder. Möglich machte das ein sensationeller Fund.
Im Januar 2021 entdeckte der Hausmeister des 1. FC Nürnberg in einem vergessenen Keller des Vereins 15 verstaubte Kisten mit der kompletten Mitgliederkartei des Clubs von 1928 bis 1955. Insgesamt 12.000 Karteikarten - ein echter Schatz. Denn von allen Fußballvereinen der Ersten und Zweiten Bundesliga war bisher nur Hertha BSC im Besitz einer kompletten Mitgliederkartei. Engagierte Hertha-Fans nutzen unter anderem diese Daten, um die Lebenswege des jüdischen Vereinsarztes Hermann Horwitz oder des Vereinsmitglieds Eljasz Kaszke, der im KZ Sachsenhausen ermordet wurde, nachzuzeichnen.
Ein sensationeller Fund: Im Keller des 1. FC Nürnberg lagerten 15 Kisten mit Namen und Daten von Mitgliedern während der NS-Zeit.
Stempel mit Datum: "30. April 1933, Austritt"
Mit Hilfe der Mitgliederkartei machte sich der Historiker und Archivar des 1. FC Nürnberg, Bernd Siegler, an die Arbeit. Daraus entstand auch ein Buch mit dem Titel "Heulen mit den Wölfen - Der 1. FC Nürnberg und der Ausschluss seiner jüdischen Mitglieder". Im Mittelpunkt stehen die 142 Vereinsangehörigen, die ausgeschlossen wurden, weil sie Juden waren. Ihre Karteikarten trugen alle den Stempel "30. April 1933, Austritt". Siegler sieht es als seine Aufgabe, diesen Menschen ein Gesicht, eine Geschichte zu geben und sie wieder zu "integralen Bestandteilen des Vereins" zu machen.
Das Datum 30. April 1933 war dem Historiker bereits bekannt. Vor Jahren hatte er im New Yorker Leo Baeck Institut Dokumente des Juristen Franz Anton Salomon gefunden: Ab 1930 war er Club-Mitglied. Salomon floh 1934 aus Deutschland und kam über Internierungslager in Frankreich schließlich in die USA, wo er ein renommierter Steuerrechtler wurde. Er starb 1993. Bis zu seinem Tod hatte er den Brief aufgehoben, den der 1. FCN am 28. April 1933 an seine jüdischen Mitglieder geschickt und ihnen darin ihren Rauswurf mitgeteilt hatte.
Ausschluss in "vorauseilendem Gehorsam"
Nicht nur für Salomon dürfte der Ausschluss ein Schock gewesen sein. Auch für die anderen 95 Sportler und 46 Sportlerinnen. Sie alle hätten sich bewusst für den bürgerlichen und damaligen Rekordmeister 1. FC Nürnberg entschieden, um sich in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren, berichtet Siegler. Bankiers, Ärzte, Juristen, Kaufleute, Schüler, Studenten und ganze Familien verbrachten beim Club ihre Freizeit, hatten dort ihren sozialen Mittelpunkt, spielten Tennis, Handball, Fußball, boxten oder machten Leichtathletik. Dass sich der 1. FCN nur Wochen nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ihrer entledigte, dürfte für viele von ihnen traumatisch gewesen sein. Der Club war damit neben dem 1. FC Kaiserslautern einer der ersten Fußballvereine, der seine jüdischen Mitglieder ausschloss - "in vorauseilendem Gehorsam", wie Siegler betont.
Siegler recherchierte die Leben der Ausgeschlossenen. Biografien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während den einen die Flucht gelang und sie sich in den USA, England oder Frankreich eine neue Existenz aufbauten und Familien gründeten, kämpften andere im Krieg für Deutschland an der Front oder im Widerstand gegen die Nazis. 13 der ausgeschlossenen Clubmitglieder überlebten die Nazi-Zeit nicht. Zehn wurden in Konzentrationslagern ermordet.
Clubhistoriker Siegler recherchierte zu den rausgeworfenen jüdischen Mitgliedern und ihrem Verbleib.
Walter Rothschild überlebte das KZ Buchenwald
Nur einer überlebte das KZ Buchenwald: Walter Rothschild. Über das Leben des Textilkaufmanns und seines Bruders Otto erfuhr Siegler mehr, weil er die Tochter, Yvonne Rothschild, in Berlin ausfindig machen konnte. Sie erzählte von ihrem Vater, der nach seiner Befreiung wieder nach Franken zurückkehrte und bis zu seinem Tod als Club-Fan ins Stadion ging.
Es sei wichtig, dass die NS-Zeit und ihre Gräueltaten nicht vergessen würden, sagt Yvonne Rothschild. Antisemitismus müsse entschlossen bekämpft werden. Das sehen auch Siegler und der 1. FC Nürnberg als ihre Aufgabe. Der Verein organisiert Fahrten für interessierte Club-Fans zu den KZ-Gedenkstätten in Dachau und Flossenbürg. Auch dabei fließen einzelne Biografien ehemaliger jüdischer Mitglieder mit ein, geben den Opfern des NS-Terrors ein Gesicht, eine persönliche Geschichte und machen sie damit für die Teilnehmenden nachvollziehbarer.
Historiker Siegler denkt schon weiter: Als eines der nächsten Projekte könnte er sich vorstellen, dass Fans mithelfen, anhand der Vereinskartei selbst die Lebensläufe weiterer Mitglieder zu recherchieren - so wie schon bei Hertha BSC.
Auch andere Vereine nahmen sich inzwischen der Geschichte ihrer jüdischen Mitglieder an, darunter Werder Bremen. Auch hier werden in einem Buch die Schicksale von sieben Mitgliedern des Clubs während der NS-Herrschaft beleuchtet.