Tag der Deutschen Einheit Wenn Zuversicht schwerfällt
Der Tag der Deutschen Einheit ist ein Feiertag - viele Menschen sehen die Wiedervereinigung aber auch mit zwiespältigen Gefühlen. Sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft.
Einer blickt mit Zuversicht auf die deutsche Einheit und die Entwicklung im Osten Deutschlands: Bundeskanzler Olaf Scholz. Er findet, dass die Deutschen am 3. Oktober allen Grund dazu haben, zuversichtlich zu sein: "Dass die modernsten Fabriken gerade im Osten Deutschlands errichtet werden mit Halbleiterproduktionen, mit Batterieproduktionen, mit Elektrofahrzeugen, die dort hergestellt werden - das ist doch alles ein gutes Zeichen."
Defizite in der Einheitsbilanz
Tatsächlich werden gute Zeichen dringend gebraucht. Denn trotz der Investitionen für Technologien, für Wissenschaft und Forschung zum Beispiel in ehemaligen Kohleregionen gibt es Defizite in der Einheitsbilanz. Und die haben eine Geschichte.
Ein Punkt davon: die Vermögensverteilung. Zwischen Ostsee und Erzgebirge besitzen die Menschen im Schnitt deutlich weniger als weiter westlich. Ein weiteres Thema: die Abwanderung. Der Osten leidet noch immer an deren Folgen. Seit den Neunzigerjahren fehlen überall Leute, erzählt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD). Nicht nur Facharbeitskräfte, sondern auch Arbeitskräfte fehlten - und entsprechend sei die Zuwanderung und Integration aber auch Rückwanderung "der zentrale Faktor, um zu wirtschaftlicher Prosperität zu kommen".
Ostdeutschland am politischen Scheideweg?
Dennoch ist der Osten dabei aufzuholen: Die Wirtschaftskraft liegt bei 79 Prozent im Vergleich zum Westen, der Bruttolohn bei 86 Prozent. Nur ganz allmählich schaffen mehr Menschen ostdeutscher Herkunft es bis in die Führungsetagen. Ihr Bevölkerungsanteil hierzulande liegt bei 20 Prozent. In Leitungspositionen sind es dann doch nur 12,2 Prozent.
Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linken-Fraktion im Bundestag, stellt angesichts dieser Zahlen fest, dass das Land von einer Einheit deutlich entfernt ist. In Anbetracht der politischen Unzufriedenheit steht Ostdeutschland seiner Meinung nach politisch am Scheideweg. 2024 soll in Thüringen, Sachsen und Brandenburg gewählt werden. Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel geht selbstbewusst von Rekordergebnissen für ihre Partei aus. Die Umfragen geben ihr Recht und sorgen für Aufregung. Allerdings darf darüber nicht vergessen werden, dass die AfD zwar im Osten größeren Zuspruch findet, aber kaum Mehrheiten.
Gesellschaftliches Klima umkämpft
Auf alle Fälle ist das gesellschaftliche Klima umkämpft, so die Analyse von Gesine Grande. Sie ist Präsidentin der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Ihre Studierenden und Lehrkräfte kommen aus 125 Ländern. Anders als Uni-Chefs in Westdeutschland kommt Grande nicht umhin, sich in die gesellschaftspolitische Debatte einzumischen und Flagge zu zeigen. Sie sagt: "Ich sehe eine unbedingte Notwendigkeit, dass wir mit den Menschen, die sich ihren Mut erhalten haben, die Ideen haben, die wirklich investieren wollen in ihre Regionen, dass wir mit denen Allianzen bilden."
Gesine Grande glaubt, dass es sich bei vielen AfD-Wählern nicht um unbelehrbare Nazis handelt, sondern um Menschen, die ratlos sind. Dass die Wahrnehmung des Ostens so stark durch den Blick auf die Rechten geprägt wird, bedauert sie. Schließlich kennt sie so viele, die dagegenhalten.
Sorgen ums Image
Überall, wo es bergauf geht, fürchtet man um den guten Ruf der Region. Denn gerade wenn es um die Anwerbung von Fachkräften geht, ist man darauf angewiesen. So ist es auch bei den Elbe-Flugzeugwerken in Dresden. Hier arbeiten Menschen aus 30 Nationen, Chef Jordi Boto kommt selbst aus Spanien und sucht händeringend Fachleute - praktisch auf der ganzen Welt. Er ist der Ansicht:
Wenn Sachsen assoziiert wird mit einem ausländerfeindlichen Bild und das ist was, wenn sie den Standort googeln, hochkommt, dann können Sie sich vorstellen, dass viele Leute sich dann bei uns nicht bewerben.
Heute steht der Osten mit dem Abschied vom fossilen Zeitalter vor einer zweiten Transformation. Die erste nach dem Mauerfall - mit all ihren individuell erlittenen Einbrüchen und Umbrüchen - hat Defizite bis heute hinterlassen. Vielleicht auch dadurch tun manche sich schwer mit der Zuversicht, die der Bundeskanzler so gern verbreiten möchte.