Kampf gegen das Coronavirus Sind Ausgangssperren rechtmäßig?
Ausgangssperren greifen tief in persönliche Freiheiten ein. Unter welchen Voraussetzungen dürfen sie verordnet werden? Sicher kann das niemand sagen.
Der Begriff "Neuland" wurde in anderem Zusammenhang ja schon oft belächelt. Beim Thema Ausgangssperren ist er definitiv angemessen. Klar ist: Ausgangssperren müssen sich im Rahmen des Grundgesetzes abspielen. Sie greifen vor allem in persönliche Freiheiten ein.
Eingriffe in die Grundrechte der Menschen - auch tiefe - sind möglich. Aber sie müssen gerechtfertigt sein. Wie bekommt man das rechtlich hin? Mittlerweile gibt es auch in Deutschland erste Beispiele: Das Landratsamt Tirschenreuth hat eine Ausgangssperre erlassen, die Stadt Freiburg ein Betretungsverbot für öffentliche Orte wie Straßen, Gehwege, Plätze und Parks. Ab Samstag gelten für ganz Bayern Ausgangsbeschränkungen. In allen Fällen gibt es eine Reihe von Ausnahmen, die allerdings unterschiedlich weit gehen.
Ob Ausgangssperren an vielen Orten in Deutschland rechtlich zulässig sind, ist umstritten.
Rechtsgrundlage erforderlich
Schritt Nummer eins lautet immer: Man braucht eine Rechtsgrundlage. An dieser Stelle kommt Deutschlands derzeit meistgeklicktes Gesetz ins Spiel: das Infektionsschutzgesetz. Darin gibt es den Paragrafen 28 zum Thema "Schutzmaßnahmen". Der Begriff "Ausgangssperre" steht dort nicht ausdrücklich drin.
Nach dem Paragrafen darf die zuständige Behörde ganz allgemein die "notwendigen Schutzmaßnahmen" treffen, soweit und solange dies erforderlich ist, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhindern. Etwas weiter heißt es konkreter: Die zuständige Behörde "kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind".
Auf diese beiden Stellen könnte man Ausgangssperren stützen. Und das tun die Behörden nun auch. Das Landratsamt Tirschenreuth stützt sich zum Beispiel auf "Paragraf 28 Absatz 1 Satz 2, 1 Infektionsschutzgesetz" - zitiert also ausdrücklich die etwas konkretere Regelung. Freiburg belässt es ganz allgemein bei Paragraf 28 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz. Die Ausgangsbeschränkungen für ganz Bayern stützen sich auf die allgemeine und die konkrete Regelung. Das alles klingt sehr kleinteilig. Es stehen aber sehr grundlegende Fragen des Rechtsstaats dahinter.
Passt das Gesetz für Ausgangssperren?
Klar ist: Als das Gesetz im Parlament beschlossen wurde, hat niemand daran gedacht, auf dieser Grundlage möglicherweise Ausgangssperren an vielen Orten in Deutschland zu verhängen. Umgekehrt ist es nicht per se ungewöhnlich, dass ältere Gesetze auch auf neue Fallkonstellationen angewendet werden.
Ein Gericht würde sicher genau prüfen, ob die derzeitigen Rechtsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz hinreichend klar formuliert sind für so einschneidende Maßnahmen wie eine Ausgangssperre. Der Bundestag hätte auch die Möglichkeit, das Gesetz noch auf die Schnelle zu konkretisieren.
Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein
Eine mögliche Rechtsgrundlage allein reicht aber noch nicht aus. Jeder Grundrechtseingriff muss "verhältnismäßig" sein. Vereinfacht gesagt: Er darf nicht übertrieben hart sein.
Dafür hat sich ein Katalog von Kriterien etabliert. Die Maßnahme muss einem legitimen Zweck dienen. Das ist hier der Gesundheitsschutz der Allgemeinheit. Sie muss geeignet und erforderlich sein, um den Zweck zu erreichen. Erforderlich bedeutet: Gibt es ein milderes Mittel, mit dem man den Zweck genauso gut erreicht?
Bei diesen schwierigen Abwägungen sind die Behörden selbstverständlich auf die Einschätzung von Experten angewiesen. Hier kann auch eine Rolle spielen, wie die bisherigen Verbote in der Praxis funktionieren. Die Frage ist, ob man erst die oft genannten acht bis zehn Tage abwarten muss, ob die Maßnahmen greifen, oder ob man sie relativ schnell verschärfen darf.
Ausnahmen unbedingt nötig
Für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit spielen die Ausnahmen von Ausgangssperren eine wichtige Rolle. Denn klar ist: Ausgangssperren können nicht bedeuten, dass 82 Millionen Menschen zu Hause eingesperrt sind.
Überall dort, wo in Deutschland bereits Sperren gelten, dürfen die Menschen trotzdem etwa zum Einkaufen von Lebensmitteln und für Arztbesuche nach draußen gehen. Auch der Hund darf weiter ausgeführt werden.
Für Sport im Freien wird in Tirschenreuth dagegen keine Ausnahme gemacht. Das heißt, man darf dort auch nicht mehr alleine im Wald joggen gehen. Nach der Regelung, die für ganz Bayern gilt, ist dagegen "Sport und Bewegung an der frischen Luft" ausdrücklich erlaubt, solange man nicht in Gruppen unterwegs ist. Die örtlichen Gesundheitsbehörden dürfen in Bayern aber strengere Regeln aufstellen - wie dies in Tirschenreuth bereits geschehen ist. Auch die Freiburger dürfen sich draußen weiterhin alleine, zu zweit oder mit Personen aus ihrem Haushalt aufhalten.
Befristung muss sein
Auch eine Befristung ist wichtig. Die Maßnahmen in Tirschenreuth, Freiburg und Bayern sind jeweils auf etwa zwei Wochen befristet. Allerdings könnten die Sperren anschließend verlängert werden, wenn dies erforderlich ist.
Da es sehr schwierig ist, die Entwicklung der aktuellen Lage abzuschätzen, lässt sich nicht vorhersagen, wie lange die Sperren tatsächlich gelten werden. Ausgangssperren können zudem auf bestimmte Gebiete begrenzt werden - so wie das zunächst geschehen ist.
Auch die Gerichte würden den Gesundheitsschutz der Bevölkerung als Argument sehr hoch gewichten. Ob Ausgangssperren in jedem Fall gerichtsfest sein werden, lässt sich aber nicht seriös vorhersagen. Das hängt von der aktuellen medizinischen Lage und davon ab, wie man sie konkret ausgestaltet. Denn es ist eben rechtliches Neuland.
Länder und Kommunen wären zuständig
Zuständig für Ausgangssperren oder Betretungsverbote sind die Länder, beziehungsweise die Kommunen. Die Bundesregierung kann also keine einheitliche Ausgangssperre für das gesamte Bundesgebiet erlassen.
Allerdings können sich der Bund und die Länder absprechen und ein gemeinsames Vorgehen vereinbaren, so wie sie das in der Vergangenheit auch schon getan haben. Nach einem Bericht des SWR soll es dazu am Sonntag Beratungen geben.
Sanktionen sind möglich
Was passiert, wenn man sich nicht an die konkreten Verbote hält? Erst einmal dürfen Polizei und Ordnungsbehörden die Verbote durchzusetzen. Sie können bei Verstößen sinngemäß sagen: "Bitte verlassen Sie diesen Ort". Wenn sich Bürgerinnen und Bürger daran nicht halten, könnten sie auch per Zwang nach Hause gebracht werden. Außerdem riskiert man Sanktionen. Welche das genau sind, hängt davon ab, auf welche Rechtsgrundlage das Verbot gestützt ist.
Die Verfügung in Tirschenreuth hat laut Gesetz zur Folge, dass Verstöße strafbar sind. Darauf weist das Landratsamt auch ausdrücklich hin. Allerdings ist noch völlig offen, wie Staatsanwaltschaften in der Praxis mit solchen Fällen umgehen werden.
Aus der Verfügung in Freiburg folgt, dass Verstöße eine bloße Ordnungswidrigkeit sind. Es droht ein Bußgeld.
Verstöße gegen die für ganz Bayern geltende Regelung müssten laut Gesetz als Ordnungswidrigkeit oder Straftat verfolgt werden können. Die Verfügung selbst weist allerdings an einer Stelle nur auf Ordnungswidrigkeiten hin, an einer anderen Stelle auch auf mögliche Strafen.
Daran zeigt sich, wie unklar die rechtliche Lage an manchen Stellen ist - auch bei den Sanktionen. Außerdem wird man hier auch an praktische Grenzen stoßen, weil flächendeckende Kontrollen schwierig sind. Die Behörden sind wohl darauf angewiesen, dass sich die meisten Menschen von sich aus an die Verbote halten.
Rechtsschutz möglich - Maßnahmen gelten sofort
Gegen eine Ausgangssperre kann man vor Gericht klagen. Eine Klage würde sicher durch die Instanzen gehen. Auch das Bundesverfassungsgericht könnte eingeschaltet werden. Auch Eilrechtsschutz ist möglich.
Die Maßnahmen gelten aber als "sofort vollziehbar". Das heißt, selbst wenn man sich vor Gericht dagegen wehren will, muss man sich zunächst daran halten - allein um keine Sanktionen zu riskieren.