Finanzminister Christian Lindner, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Kanzler Olaf Scholz im Bundestag.
FAQ

AKW-Laufzeiten Warum die Atomkraft die Ampel spaltet

Stand: 17.10.2022 11:13 Uhr

Der Atomstreit wächst sich zur ernsten Ampel-Krise aus. Grüne und FDP beharren auf ihren Positionen. Die Kanzlerpartei will den Streit vom Tisch haben. Die Zeit drängt. Wie konnte es so weit kommen - und wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Die Ausgangslage

Eigentlich ist der Atomausstieg in Deutschland zum Ende des Jahres beschlossene Sache. So steht es auch im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Dann kam der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und mit ihm die Energiekrise - und damit eine neue alte Atomdebatte. Drei deutsche Atomkraftwerke sind derzeit noch am Netz: Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg und Emsland in Niedersachsen. Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck will die beiden süddeutschen AKW nun länger am Netz halten - im so genannten Reservebetrieb, und zwar bis Mitte April. Der dritte noch aktive Meiler in Niedersachsen (Emsland) soll nicht Teil dieser Notfallreserve sein und fristgerecht zum 31. Dezember abgeschaltet werden.

Was heißt Reservebetrieb?

Reservebetrieb, Notbetrieb, Streckbetrieb, Einsatzreserve - alles meint ungefähr das Gleiche: Das AKW wird nicht zum Ende des Jahres stillgelegt, sondern wird in Reserve gehalten und kann so bei Bedarf weiter Strom erzeugen. Minister Habeck rechnet auch damit, dass die AKW im Winter gebraucht werden. Neue Brennelemente müssen dafür nicht angeschafft werden. Notwendig ist jedoch eine Gesetzesänderung, sonst läuft der Betrieb aller AKW zum 31. Dezember aus.

Wo ist das Problem?

Habecks Pläne stoßen bei seinen Grünen naturgemäß auf wenig Beifall, dort ist man aber notgedrungen bereit, die maximal mögliche Laufzeit von zwei AKW um einige Monate zu verlängern - höchstens jedoch bis zum 15. April, wie ein Parteitagsbeschluss am Wochenende festlegte. Die Basis gab Habeck damit eine "rote Linie" vor. Bis hierhin und nicht weiter. Handfesten Widerstand erfährt Habeck jedoch vom Koalitionspartner FDP. Den Liberalen gehen die Pläne Habecks nicht weit genug und sie verweigern daher den Gesetzesplänen aus dem Wirtschaftsministerium ihre Zustimmung.

Was will die FDP?

Die Partei um Finanzminister Christian Lindner will den Weiterbetrieb aller drei verbliebenen Kernkraftwerke bis ins Jahr 2024. Auch bereits stillgelegte AKW sollten nach Möglichkeit wieder hochgefahren und neue Brennstäbe angeschafft werden. Die FDP hält es für absurd, in Zeiten knapper und damit teurer Energie die drei AKW vom Netz zu nehmen. Der Weiterbetrieb sei daher eine "energiepolitische Notwendigkeit".

Wie argumentieren die Grünen in dem Streit?

Sinngemäß: Wir haben uns inhaltlich bewegt, jetzt muss sich die FDP bewegen. "Wir sind in dieser besonderen Situation bereit, über unseren Schatten zu springen, um die Versorgungssicherheit zu sichern", sagte Grünen-Chefin Ricarda Lang im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF. "Das ist ja bereits ein Kompromissangebot. Ich hoffe, dass es jetzt von der anderen Seite die Bereitschaft gibt, da mitzugehen." Den Kauf neuer Brennstäbe lehnte sie kategorisch ab. Dies würde die Atomkraft "für die Zukunft zementieren".

... und die FDP?

Nach Ansicht der FDP darf es in der Frage der Energiesicherheit "nicht um Parteipolitik" gehen. "Wenn es darum geht, Schaden von unserem Land abzuwenden, die ruinös hohen Energiepreise zu reduzieren, Blackouts zu verhindern - dann gibt es für mich keine roten Linien", sagte FDP-Chef Lindner. Und zum Vorwurf, sich inhaltlich nicht zu bewegen, gab der Finanzminister zurück: "Ich bin über meinen finanzpolitischen Schatten schon Milliarden Mal gesprungen, wenn ich sehe, was wir an schuldenfinanzierter Hilfe oder an auch Ertüchtigung der Bundeswehr machen."

Was sagt eigentlich die Kanzlerpartei dazu?

Von der SPD kommt bislang keine klare Positionierung. Aber Scholz und Co möchten den Streit gerne schnell vom Tisch haben. Der Kanzler muss sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, den heraufziehenden Konflikt in seiner Ampel lange laufen gelassen zu haben. Inhaltlich steht die SPD wohl der Position der Grünen etwas näher. Die Parlamentarische Geschäftsführerin Katja Mast betonte mit Blick auf die FDP, "dass wir, was wir gemeinsam verabredet haben, auch umsetzen müssen". Dabei bezog sie sich auf die Vereinbarung der Koalitionsspitzen vom 29. September unter anderem zum 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm gegen die hohen Energiepreise. Dabei hatten die Koalitionsspitzen auch vereinbart: "Wir schaffen außerdem jetzt die Möglichkeit, die süddeutschen Atomkraftwerke bis zum Frühjahr 2023 laufen zu lassen." Dabei handelt es sich um die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim. Auch die Grünen berufen sich auf die Vereinbarung der Ampel, Stichwort "Doppel-Wumms". Die FDP widerspricht: Eine Einigung in der Sache bestand nicht. Lindner habe sogar in der Pressekonferenz zum Abwehrschirm öffentlich dargelegt, dass die FDP eine weitergehende Entscheidung der Bundesregierung für erforderlich halte.

Warum drängt die Zeit?

Aus zwei Gründen: 1. Weil die Betreiber der AKW wissen müssen, ob und wie es nun mit ihren Meilern weitergeht. Beim bayerischen Kraftwerk Isar 2 sind etwa Wartungsarbeiten an einem Ventil nötig, damit es über das Jahresende hinaus weiter laufen kann. Und 2. Weil das Atomgesetz geändert werden muss. Der Atomausstieg ist zum Jahreswechsel gesetzlich verankert, jede Verlängerung von Laufzeiten braucht daher eine Gesetzesänderung. Damit diese noch umgesetzt werden kann, muss sie in dieser Woche vom Bundestag beschlossen werden. Bis allerspätestens Mittwoch müsste eine Einigung der Koalitionsfraktionen stehen. Und wenn nicht? Dann steht die FDP mit leeren Händen da, alle drei Parteien schieben sich die politische Verantwortung, wenn es im Winter wirklich zu Stromausfällen kommen sollte - und Deutschland befände sich nicht nur in einer Energiekrise sondern auch in einer schweren Regierungskrise.

Welche Rolle spielt das Argument der Netzstabilität?

Das Problem könnte im Winter die Netzstabilität in Süddeutschland sein. Habecks Ministerium verweist darauf, dass im Süden weniger Strom aus erneuerbaren Energieträgern wie Wind und Sonne produziert wird, wichtige Industriezentren dort aber großen Bedarf hätten. In Bayern mangele es zudem an Netzverbindungen. In Norddeutschland hingegen sollten zur Deckung möglicher Lücken schwimmende Ölkraftwerksschiffe zum Einsatz kommen, daher sei das AKW Emsland nicht nötig als Reserve. Die Netzbetreiber, die einen Stresstest im Auftrag des Ministeriums durchgeführt haben, befürworteten den Reservebetrieb zweier Meiler als ein Baustein in einem Bündel von Maßnahmen.

Der Anteil der Stromerzeugung durch AKW ist gering. Im ersten Quartal 2022 erzeugten Atomkraftwerke amtlichen Angaben zufolge sechs Prozent des Stroms in Deutschland, Gaskraftwerke 13 Prozent. Neben Strom erzeugen Gaskraftwerke allerdings häufig auch Heizwärme und können deshalb nicht einfach durch ein AKW ersetzt werden. Atomkraftwerke sind nur schwer regelbar und deshalb nicht geeignet, um flexibel mit Wind- oder Solarstrom kombiniert zu werden. Weil die Abschaltung der drei verbliebenen AKW für Ende 2022 geplant war, wurden zudem längst fällige Sicherheitsüberprüfungen nicht mehr durchgeführt.

Moritz Rödle, ARD Berlin, kaum Bewegung im Streit über AKW-Laufzeiten

tagesschau 17:00 Uhr

Wie geht es jetzt weiter?

Am Sonntag war ein Krisengespräch von Kanzler Scholz mit seinen Ministern Habeck und Lindner ergebnislos zu Ende gegangen. Zumindest ohne öffentlich verkündeten Kompromiss. Überhaupt ist unklar, wie eine Lösung aussehen könnte. Habeck hat nach dem Grünen-Parteitag kaum Spielraum für weitere Zugeständnisse. Außer, er setzt sich über die Beschlüsse hinweg. Auch FDP-Chef Lindner steht unter maximalem Erfolgsdruck. Für ihn geht es nach vier misslungen Landtagswahlen auch um das liberale Profil in der zunehmend ungeliebten Ampel-Konstellation.

Für Scholz kommt dieser Konflikt mit Ansage ebenfalls zur Unzeit. Das Bild, das seine Regierung in diesen multiplen Krisenzeiten abgibt, ist kein harmonisches und vielen Menschen fehlt zunehmend das Verständnis für Parteiengezänk. Die Zustimmungswerte für die Ampel sind laut DeutschlandTrend zuletzt deutlich gesunken.

Ein Kompromiss könnte sein, doch alle drei verbliebenen AKW bis Mitte April nächsten Jahres am Netz zu lassen. Nicht aber bis 2024 und ohne neue Brennstäbe anzuschaffen. Vertreter von FDP und Grünen zeigten sich zuletzt versöhnlich und vorsichtig optimistisch. Die Koalition habe oft wieder miteinander gerungen, auch öffentlich, sei aber immer in der Lage gewesen, eine Einigung zu finden, sagte Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge im Bericht aus Berlin. Auch FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gab sich zuversichtlich, dass die Ampel-Koalition eine gute Lösung erzielen werde - am Montag oder am Dienstag.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 17. Oktober 2022 um 12:00 Uhr.