Coronavirus Warum die Ampel an der Impfpflicht festhält
Der Plan einer allgemeinen Impfpflicht ist mit der Omikron-Variante fragwürdiger geworden. Doch die Ampel-Koalition will an ihrem Zeitplan festhalten. Warum?
Der Bundestag hat noch nicht einmal angefangen, über eine allgemeine Impfpflicht mittels einer Orientierungsdebatte zu diskutieren - da wirkt das Ziel der Ampel-Koalition für eine gesetzlich verankerten Impfpflicht bereits fast wie aus der Zeit gefallen: Omikron ändert die Spielregeln. Mit der Omikron-Welle rauscht auch die Erkenntnis durchs Land, dass diese durch einen zeitaufwändigen gesetzgeberischen Prozess einer Impfpflicht nicht mehr aufzuhalten ist. Zudem umgeht sie ein Stück weit die Immunisierung durch die bisherigen Corona-Impfungen - diese schützen nicht unbedingt vor Infektion, jedoch meist vor einem schweren Verlauf. Dennoch viel Wasser auf den Mühlen der Impfskeptiker.
Für die Ampel-Koalition geht es nun verstärkt um die Gretchenfrage: Lässt sich mit Impfstoffen, die bisher erkennbar keine sterile Grundimmunität und auch keine dauerhafte Grundimmunität erzeugen und auch Infektionen mit Corona-Varianten wie Omikron nicht verhindern können, rechtssicher der Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zugunsten der öffentlichen Gesundheit wirklich rechtfertigen? Das Dilemma der Regierung aus SPD, Grünen und FDP ist: Anders als die Vorgänger-Regierung hat Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach eine klare Positionierung pro allgemeiner Impfpflicht vorgenommen, jetzt ist mehr als fraglich, ob sie bei ihren eigenen Abgeordneten dafür eine Mehrheit finden.
Neue zweifelnde Stimmen mehren sich nicht nur von den bekannten Impfpflichtskeptikern, sondern auch seitens der Medizin: "In der Tat finden wir immer weniger Argumente flächendeckend zu impfen", sagte der Infektiologe Jan Rupp am Dienstag gegenüber dem NDR. Mitten in der Delta-Welle im vergangenen Herbst seien die Argumente pro Impfpflicht aus infektiologisch-epidemiologischer Sicht deutlich besser gewesen als jetzt bei Omikron. Für den kommenden Herbst sieht er vor allem eine Impf- und Teststrategie für die Risikogruppen vonnöten, die Debatte einer generellen Impfflicht werde dann zunehmend schwieriger. Auch die Ethikratsvorsitzende Alena Buyx rudert inzwischen ein Stück zurück.
Doch die Ampel-Koalition bleibt bei ihrem Plan, im ersten Quartal des Jahres eine gesetzliche Impfpflicht zu etablieren - mittels Orientierungsdebatte in der kommenden Woche und dann folgenden fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen, zu denen auch die Oppositionsparteien hinzukommen können. Diesen Zeitplan bestätigten alle drei Fraktionen der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP gegenüber tagesschau.de. Zugleich wird das Ziel aber inzwischen differenzierter formuliert: Es müsse nicht zwingend eine starre allgemeingültige dauerhafte Impfpflicht sein - es gehe um die beste politische Lösung, weiter durch die Pandemie zu kommen, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben hier vor allem den kommenden Herbst im Blick - nicht die aktuelle Omikron-Welle, die kaum mehr zu brechen ist.
Mehr als Gesichtswahrung?
Man kann das angesichts der aktuellen Lage als Sturheit sehen oder auch Gesichtswahrung. Doch wenn man in die Fraktionskreise hineinhört, die an den Gruppenanträgen arbeiten - dann klingt das nach einem ernsthaften Ringen um den angemessenen Weg: Viele Abgeordnete haben ja auch die vergangenen zwei Pandemie-Jahre im Parlament begleitet und stellen sich auch im Rückblick die Frage, ob man in der Pandemie insgesamt immer vorausschauend genug gehandelt hat. Das wollen sie jetzt tun. Eine abgestufte Impfpflicht nach Risiko- und Altersgruppen ist da genauso im Gespräch wie eine zeitliche Befristung und stetige Anpassung nach aktueller medizinischer Erkenntnislage.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte am Donnerstag, er gehe davon aus, dass über eine Impfpflicht diskutiert werde, "die ab einer bestimmten Altersgrenze gelten wird". Damit ist eine mehrheitlich beschlossene allgemeine Corona-Impfpflicht ab 18 Jahren so gut wie vom Tisch. Einige sind noch gänzlich unentschlossen. Manche Impfbefürworter unter den Abgeordneten sind nicht zwingend auch für die Impfpflicht - sie wollen zwischen dem aktiven Werben für die Impfung und einer klaren Impfpflicht trennen.
Und den Weg zu einem Mehrheitsbeschluss wollen die Ampel-Fraktionen regelrecht zelebrieren und transparent machen, dass sie um die richtigen Argumente ringen, statt eine Impfpflicht mit Regierungsentwurf und so genanntem Fraktionszwang zu beschließen: Also dem Usus der Fraktionsdisziplin, Mehrheitsbeschlüsse mitzutragen. Es ist allerdings fraglich, ob sich da prominente Impfpflicht-Skeptiker wie der stellvertretende Bundestagspräsident und FDP-Politiker Wolfgang Kubicki geräuschlos eingereiht hätten. Er erarbeitet stattdessen federführend einen eigenen Gruppenantrag.
Die Impfpflicht-Befürworterinnen und -Befürworter unter den Ampel-Abgeordneten lassen sich von der Omikron-Variante nicht aus dem Konzept bringen: Es gebe die Erkenntnis, dass eine durchgemachte Infektion keine langfristige Immunisierung bringe, eine Dreifachimpfung jedoch guten Immunschutz biete, sagt die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Heike Baehrens gegenüber tagesschau.de: "Der wichtigste Stabilitätsanker ist das Impfen in der Pandemie."
Wissen versus Mutmaßungen
Ansonsten habe es die Politik seit Beginn der Corona-Krise stets mit ungenauen Zukunftsaussagen zu tun, auf deren Basis sie entscheiden müsse: "Aber der Impfschutz ist wissenschaftlich nachgewiesen." Alles andere seien Mutmaßungen, etwa dass eine Grundimmunisierung durch das Infektionsgeschehen erzielt werden könne oder keine aggressiveren Virusvarianten mehr auftauchten. Auch dass der Übergang in eine endemische Lage bereits beschritten sei, sei derzeit nicht belegbar. "Wir müssen jetzt nochmals mutiger werden mit Blick auf das, was vor uns liegt."
Aus Sicht der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Gesundheitspolitikerin der Grünen, Maria Klein-Schmeink, geht es jetzt darum zu verhindern, im Herbst wieder in dieselbe Situation hineinzulaufen wie 2021. Das Konzept der Impfpflicht bedeute nicht, hundert Prozent einer Gesellschaft zu zwingen, etwas zu tun, was sie nicht will. Jedoch gebe es eine zu große Gruppe Ungeimpfter, die hohe Risiken eingehe und damit große Auswirkungen auf die Freiheitsgrade aller habe. Die wolle man erreichen. "Weil wir wissen, dass wir mit einer großen Zahl dreifach Geimpfter besser durch die Pandemie kommen." Zudem wisse man noch zu wenig über Long Covid. All das spreche für eine Impfpflicht - und keinen weiteren Aufschub der parlamentarischen Befassung: "Wir werden um die Debatte nicht herumkommen."
Auch die Skeptiker einer generellen Impfpflicht in den eigenen Reihen der Ampel-Koalition sind nicht für den Aufschub der Debatte. Die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus spricht sich zwar gegen eine allgemeine Impfpflicht aus, hält aber die breite parlamentarische Diskussion dazu für wichtig. Omikron mache die Debatte nicht überflüssig - die Impfpflicht wäre für den kommenden Herbst gedacht, geklärt werden müsse es jetzt, heißt es in ihrem Büro: "Wenn man die Debatte erst im kommenden Herbst führe, wäre es ja zu spät."