Entwurf für das Grundgesetz Geburtsstunde im Speisezimmer des Königs
Ein Festakt erinnert heute an den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vor 75 Jahren. Wo einst König Ludwig II. speiste, tagte 1948 eine Männerrunde. Ihr Auftrag: ein Entwurf für eine Verfassung.
Wenn man am Ufer des Chiemsees auf die Fähre steigt und wenig später die Herreninsel betritt, sind Trubel und Hektik weit entfernt. Heute wie vor 75 Jahren.
Damals waren zwei Telefone die einzige Verbindung zur Außenwelt für die Mitglieder des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee. Der Auftrag: eine Verfassung für einen westdeutschen Staat vorzubereiten. Der Ort: das Alte Schloss auf der Herreninsel im Chiemsee. Zimmer Nr. 7, das ehemalige Speisezimmer des bayrischen Königs Ludwig II. wurde zum Sitzungssaal. Eine enorme Herausforderung für die Politiker und Rechtsexperten, die sich hier ab dem 10. August 1948 ans Werk machten. Sie schrieben einen Entwurf für das Grundgesetz, der bis heute nachwirkt.
Es begann in der "Stunde Null"
Mai 1945, es war die "Stunde Null" nach dem Zweiten Weltkrieg. Nazi-Deutschland war besiegt, die Siegermächte teilten das Land in vier Besatzungszonen auf. Ziemlich schnell entstanden die Länder mit ihren gewählten Landtagen und Ministerpräsidenten. Der Konflikt zwischen Ost und West wurde immer größer. Prominentes Beispiel dafür ist die Berlin-Blockade durch die Sowjetunion und die "Luftbrücke" der übrigen Alliierten.
Am 1. Juli 1948 erteilten die drei westlichen Alliierten den Ministerpräsidenten der West-Bundesländer den Auftrag, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, die eine demokratische und föderale Verfassung entwerfen soll. Der "Parlamentarische Rat" in Bonn sollte ab dem 1. September 1948 diese Aufgabe übernehmen. 61 Männer und vier Frauen waren seine Mitglieder, gewählt von den Landtagen.
Wenig Zeit für Beratung
Viel Zeit blieb also nicht zwischen dem Auftrag im Juli und der Auftaktsitzung des Parlamentarischen Rates im September in Bonn. Eine gewisse Vorbereitung brauchte man trotzdem. Die übernahm ein kleiner Kreis von Politikern und Rechtsexperten im Auftrag der Ministerpräsidenten. Im August 1948 in Herrenchiemsee machte man sich an die Arbeit. 26 Vertreter hatte der Konvent, davon elf stimmberechtigte Mitglieder, eines pro westdeutsches Land. Klar war nur: Es sollte inhaltlich um eine vollwertige Verfassung gehen. Mit Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung eines geteilten Deutschlands allerdings um ein Provisorium, also eine vorübergehend geltende Verfassung.
Ergebnis: Entwurf für ein Grundgesetz
Die Bevölkerung nahm damals keine größere Notiz vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Das Presseecho war durchwachsen, die Zeitungen gingen eher von einem abgehobenen Expertenplausch aus. Doch in nur 13 Tagen verfasste der Konvent den "Chiemseer Entwurf - Grundgesetz für einen Bund deutscher Länder". 149 Artikel umfasste er. Schon die bloße Zahl ist nah dran am später beschlossenen Grundgesetz mit seinen 146 Artikeln.
Wichtiger aber ist: Der Aufbau mit einem Katalog der Grundrechte zu Beginn und den folgenden Regeln zur Staatsorganisation ist sehr ähnlich. Und auch bei den Inhalten gibt es viele Ähnlichkeiten, die bis heute zum Wesen des Grundgesetzes gehören.
Menschenwürde und "Ewigkeitsgarantie"
Besonders interessant ist schon der erste Satz des Entwurfs von Herrenchiemsee in Artikel 1, der lautet: "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Eine 180-Grad-Wende im Vergleich zum NS-Regime, und eine klare Abkehr von dessen Staats- und Menschenbild. Schon im nächsten Satz heißt es dann: "Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar." Kaum ein Unterschied also zum späteren ersten Satz des Grundgesetzes, der lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Der Chiemseer Konvent formulierte einen Gegenentwurf zum NS-Regime.
Und: Die Grundrechte sollen unmittelbar geltendes Recht für sämtliche Staatsgewalten sein, die daran gebunden sind. Ob der Staat Grundrechte verletzt, darüber soll ein Bundesverfassungsgericht entscheiden. Neben wesentlichen Elementen für den Staatsaufbau regelt der Entwurf in Grundzügen auch, was bis heute als "Ewigkeitsgarantie" im Grundgesetz (Artikel 79 Absatz 3) bekannt ist. Sie besagt, dass man die wesentlichen Säulen der Verfassung (z.B. Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus) nicht verändern kann, auch nicht mit einer Zweidrittelmehrheit.
Adenauer sprach von einem unverbindlichen Entwurf
Ob der Entwurf Anklang finden würde, war beim Abschluss des Konvents völlig offen. Sechs Mitglieder des Konvents saßen ab dem 1. September 1948 auch im Parlamentarischen Rat. Dessen Vorsitzender Konrad Adenauer betonte, es sei ein unverbindlicher Entwurf, den man natürlich prüfen werde.
Konrad Adenauer unterzeichnet am 23. Mai 1949 um 17 Uhr in Bonn das Grundgesetz. Es trat am 24. Mai um 0 Uhr in Kraft.
Auch wenn er natürlich nicht eins zu eins übernommen wurde - im Vergleich zu diesen sehr verhaltenen Reaktionen ist der Einfluss des Entwurfs von Herrenchiemsee weit höher, als viele erwartet hätten. Mit Ablauf des 23. Mai 1949 trat das vom Parlamentarischen Rat erarbeitete Grundgesetz in Kraft, nachdem die Alliierten und die Landtage der Bundesländer zugestimmt hatten. Eine vollwertige Verfassung mit Grundrechten und zentralen Regeln zur Staatsorganisation war es von Anfang an. Seit der Wiedervereinigung über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist das Grundgesetz auch kein Provisorium mehr.
Alkohol, Tabak und die Gattinnen
Auf Herrenchiemsee wurde zum Jubiläum die Dauerausstellung über den Konvent neu und digitaler als bisher gestaltet. Es geht um die große Linien, zum Beispiel rund um das Thema Föderalismus. Aber auch um einen Blick hinter die Kulissen und die logistischen Herausforderungen in der Nachkriegszeit. "Wenn die Herren ihre Gattinnen mitbringen wollen, ist das wohl nicht abzuweisen", heißt es leicht sorgenvoll in einem Originaldokument. Und: Jedem Mitglied standen täglich - auch das ist belegt - ein Liter Bier, eine halbe Flasche Wein, 12 Zigaretten oder drei Zigarren zu.