Angriffe auf Politiker Härtere Strafen würden Täter "nicht interessieren"
Wer eine politische Person überfalle, den interessiere das Strafmaß nicht, sagt Soziologe Lengfeld. Er sieht in den jüngsten Gewalttaten auch einen Hinweis darauf, dass es weniger Respekt vor anderen Menschen und deren Meinungen gebe.
tagesschau24: Bedrohungen und Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker haben in den letzten Jahren zugenommen. Wo sehen Sie die Gründe?
Holger Lengfeld: Wir können nicht genau sagen, was die Ursachen konkreter Übergriffe sind. Dazu muss man sich mit den Personen beschäftigen, die tatsächlich die Übergriffe begangen haben. Bei denen, die das ausüben, sind geringe Frustrationstoleranz, vielleicht auch psychische Deformationen und radikale Einstellungen zu beobachten.
Dahinter ist aber eine große Folie von dem, was wir Populismus nennen - also der Glaube, dass gesellschaftliche Eliten das brave, homogene, ehrliche Volk verraten und dass die Täter im Namen einer Allgemeinheit, also einem übergeordneten Interesse, handeln. Dadurch fühlen sie sich legitimiert.
Möglicherweise viele Nachahmertäter
tagesschau24: Haben die Anfeindungen eine neue Qualität erreicht?
Lengfeld: Da bin ich mir nicht so sicher. Wir hatten auch in den letzten 20 Jahren immer wieder Übergriffe auf Politikerinnen und Politiker. Ich nenne als letztes Beispiel Walter Lübke. Es gab Überfälle auf Wolfgang Schäuble oder auf Oskar Lafontaine auf offener Bühne. Das ist schon immer passiert.
Möglicherweise haben wir jetzt gerade eine Situation, in der viele Nachahmertäter auf den Plan kommen, weil sie angeregt werden durch diejenigen, die in vorderster Front und in den Medien erscheinen, und glauben, dass sie in einem bestimmten Rahmen handeln können. Ich denke aber auch, dass die Bereitschaft zur Gewalt in politischen Fragen und auch politischer Hass in der Gesellschaft möglicherweise zugenommen hat in den letzten Jahren.
"Gesunkene Respektschwelle bei der Anerkennung von Meinungen"
tagesschau24: Ist da vielleicht auch die Schwelle zu einem tätlichen Angriff gesunken?
Lengfeld: Angriffe sind ja etwas Außergewöhnliches. Das ist eine Extremsituation, in der sich auch die Person befindet, die sich dafür entscheidet. Die Frage ist, was der Grund für den gesunkenen Respekt ist, dass man denkt, dass man eine Person des öffentlichen Lebens überfallen und angreifen kann.
Möglicherweise gibt es in unserer politischen Landschaft insgesamt eine etwas gesunkene Respektschwelle bei der Anerkennung von Meinungen in der Gesellschaft, die wir nicht mögen, aber deren Sprecher wir akzeptieren sollten. Also diese Konstruktion: Wir akzeptieren denjenigen, der spricht, aber wir lehnen seine Meinung ab und sind weiter mit ihm im Gespräch. Da scheint es in letzter Zeit tatsächlich verstärkt Probleme gegeben zu haben.
tagesschau24: Welche Rolle spielen soziale Medien? Radikalisierung findet ja häufig im Netz statt.
Lengfeld: Das ist richtig. Auch da bin ich mir nicht so sicher, ob solche Formen von Radikalisierung nicht auch schon vor 50 oder 60 Jahren in kleinen Gruppen in der Kneipe oder unter Kollegen und Freunden stattgefunden haben.
Was wir wissen ist tatsächlich, dass sich diese Einstellungen noch verstärken, wenn Personen, die radikale Ansichten haben, auf Personen treffen, die sie ebenfalls haben. Sie gewinnen den Eindruck, dass alle so denken wie sie selbst. Sie haben dann die Vorstellung, die ganze Gesellschaft wäre im Prinzip ihrer Meinung, aber niemand tut etwas. Soziale Medien schaffen einen Ort dafür, dass sich solche Meinungsverstärkungen bilden.
"Mehr Besonnenheit und mehr Respekt" - auch in Talkshows
tagesschau24: Welche Defizite sehen Sie denn bei den Politikern selbst bei der Demokratiebildung? Hätten Politiker denn nicht schon viel eher etwas tun können?
Lengfeld: Es ist in der politischen Kultur extrem wichtig, dass man Personen, die anderen politischen Parteien angehören und mit denen man im öffentlichen Wettstreit steht, als Person, als Gleiche, auch als Bürger anerkennt und ihnen das Recht gibt, Meinungen zu artikulieren, die man selber ablehnt und die man möglicherweise auch politisch bekämpft.
Ich denke auch, dass Politik eine wichtige Funktion hat, dies selbst in Talkshows immer wieder zu machen. Mein persönlicher Eindruck ist: Das geschieht nicht allzu häufig. Der politische Gegner wird in seiner Person desavouiert (Anm. d. Red: nicht anerkannt), insbesondere von den politischen Extremen. Hier wäre möglicherweise mehr Besonnenheit und mehr Respekt gegenüber dem politischen Gegner anzuraten. Das hat eine Vorbildfunktion. Das wird aber nicht kurzfristig greifen. Da wird man erst in sieben bis zehn Jahren sehen, ob das möglicherweise Wirkungen zeigen kann.
Angreifer "fühlen sich legitimiert"
tagesschau24: Gestern haben die Innenminister beraten. Faeser will nun eine Verschärfung des Strafrechts prüfen lassen. Sind das aus Ihrer Sicht die richtigen Maßnahmen, um das Problem wieder in den Griff zu bekommen?
Lengfeld: Vielleicht langfristig, aber kurzfristig nicht. Denn wer sich entscheidet, eine politische Person zu überfallen, sei es beim Kleben von Wahlplakaten oder auf offener Bühne, den interessiert das Strafmaß nicht. Sie müssen sich vorstellen: Die Personen glauben, im Namen der Allgemeinheit zu handeln. Sie fühlen sich also legitimiert.
Wenn das Objekt des Angriffs selbst als Vertreter einer Elite oder eines Staats gilt, dann hat man keine Angst vor der Strafe, die von dem Staat ausgeht, die auf diese Tat folgen kann. Diese Abschreckungseffekte sind immer wichtig. Das Recht ist das Mittel und das Schwert der wehrhaften Demokratie. Aber kurzfristig wird man leider Leute nicht abschrecken, solche Taten zu begehen.
Das Gespräch führte Kirsten Gerhard. Für die schriftliche Form wurde es leicht überarbeitet und gekürzt.