Grundsatzpapier des Finanzministers Lindners Kampfansage an die eigene Koalition
In einem Grundsatzpapier stellt Finanzminister Lindner Entscheidungen der Ampelkoalition infrage. Er fordert darin eine Kehrtwende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Veröffentlicht worden sei das Papier durch eine Indiskretion.
Es liest sich fast wie ein Gegenentwurf der Opposition zu aktuellen Regierungspositionen: "Wirtschaftswende Deutschland - Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit" ist der Titel eines Grundsatzpapiers von Finanzminister Christian Lindner, in dem er die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ampelkoalition infrage stellt.
Probleme wie ein Investitionsstau, geringe Produktivität und die Querelen in Bezug auf den Klimaschutz seien zum Teil "vorsätzlich herbeigeführt" worden, schreibt Lindner in dem Papier, das dem ARD-Hauptstadtstudio vorliegt. "Deshalb ist eine Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen erforderlich, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden." Zuerst hatte das Magazin Stern darüber berichtet.
Bürokratieabbau und weniger Abgaben
Lindner schlägt darin vor, Nachweis- und Berichtspflichten weitgehend abzubauen sowie keinen neuen Regelungen dieser Art einzuführen. Der Solidaritätszuschlag soll komplett entfallen, die Körperschaftssteuer reduziert werden. Im Gegenzug will Lindner weitere Einsparungen vornehmen, insbesondere bei der Klimaschutzförderung. Die geplante Subvention für Intel, das in Magdeburg eine Chipfabrik bauen will, sollte ganz entfallen.
Es helfe dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen, so Lindner - und geht damit auf Konfrontationskurs zu Wirtschaftsminister Robert Habeck. Dieser hatte einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorgeschlagen, um Investitionen von Firmen zu fördern.
Lindner sieht "Herbst der Entscheidungen"
Lindner will so im bereits vor Längerem von der FDP ausgerufenen "Herbst der Entscheidungen" eine "Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen" erreichen, um "Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden". Er und andere FDP-Minister hatten den Verbleib der FDP in der Regierung an die Bedingung geknüpft, dass noch vor Weihnachten in wichtigen Politikfeldern Einigkeit in der Koalition herrschen müsse. Genannt wurden unter anderen die Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch die Migrationspolitik.
Manche Forderungen der FDP mögen altbekannt sein, der Zeitpunkt des neuen Papiers ist jedoch brisant. Erst vor anderthalb Wochen hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erneut einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorgeschlagen, um Investitionen von Firmen zu fördern. Die FDP lehnt dies unter Verweis auf die Schuldenbremse ab.
Nur eine interne Diskussionsvorlage"?
Lindner erklärte am Abend, dass sein Papier zunächst nicht für die Öffentlichkeit gedacht gewesen sei. Es habe "nur im engsten Kreis der Bundesregierung" beraten werden sollen, hieß es in einem Schreiben des FDP-Chefs an Parteikollegen. Der Text sei "heute durch eine Indiskretion anderswo" öffentlich geworden. Sein Schreiben solle das Papier einordnen, schrieb Lindner nun. Er führt unter anderem aus: "Deutschland muss sich politischen Lebenslügen stellen, damit ein neuer Aufbruch möglich wird."
Heftige Kritik von Koalitionspartnern
Aus der SPD-Bundestagsfraktion gab es massive Kritik an Lindners Vorschlägen: "Wir brauchen jetzt keine Papiere, sondern gemeinsames Handeln, um der Industrie schnell zu helfen und Sicherheit zu geben. Vor allem brauchen wir keine Opposition in der Regierung" sagte der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Rosemann, dem Tagesspiegel.
Der SPD-Abgeordnete Nils Schmid bezeichnete Lindners Papier als "inhaltlich sehr allgemein; wenn es konkret wird, nicht vereinbar mit dem Koalitionsvertrag. Nur neoliberale Phrasendrescherei". Die FDP bleibe Antworten auf die drängenden Fragen schuldig, etwa wie Industriearbeitsplätze bewahrt und der Industriestrompreis gesenkt werden können. Der SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz riet Lindner, "nicht einen öffentlichen, unabgestimmten Überbietungswettbewerb an großteils nicht finanzierten Wohltaten" zu beginnen.
Gipfel und Gegengipfel
Nicht nur mit Papieren ringt die Bundesregierung derzeit um den richtigen Kurs in der Wirtschaftspolitik: Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zu einem Industriegipfel eingeladen, zu dem aber weder Habeck noch Lindner eingeladen wurden. Die FDP-Fraktion hatte eine Art Gegengipfel mit Verbänden veranstaltet. Scholz plant - ebenso wie die FDP - noch weitere Treffen in etwa dem bisherigen Format. Am Ende will der Kanzler einen "Pakt für die Industrie" erreichen, das Ergebnis soll noch vor Weihnachten stehen, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit ankündigte. Erst im Juli hatte die Bundesregierung eine "Wachstumsinitiative" angekündigt. Das Paket mit vielen Maßnahmen ist aber noch nicht umgesetzt worden.