US-Raketen in Deutschland Abschreckung oder Provokation?
Ab 2026 wollen die USA weitreichende US-Raketen in Deutschland stationieren. Berlin und Washington argumentieren mit dem Schutz der NATO. Kritiker sehen hingegen die Gefahr eines Wettrüstens.
Die Stationierung von Mittelstreckenraketen war "ein Angebot der US-Regierung", auf das man "gern und bereitwillig eingegangen" ist. So erklärt der politische Berater von Verteidigungsminister Boris Pistorius, Jasper Wieck, das Zustandekommen der deutsch-amerikanischen Rüstungsvereinbarung in einem Bundeswehr-Interview.
Sein Chef spricht im Deutschlandfunk mittlerweile von einer "exekutiven Entscheidung der amerikanischen Administration, in Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt". Es geht also um eine bilaterale deutsch-amerikanische Vereinbarung und ausdrücklich nicht um eine gemeinsame Bündnisentscheidung. Trotzdem sei sie "eingebettet in die gesamte Sicherheitsstrategie und Planung der NATO", sagt zumindest ein Regierungssprecher.
Lapidare Erklärungen für Abgeordnete
Noch vor drei Wochen beim NATO-Gipfel verschickte die Bundesregierung eine lapidare Erklärung, dass die USA ab 2026 "zeitweilig weitreichende Waffensysteme in Deutschland stationieren". Nach über 20 Jahren Pause.
Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Pistorius taten so, als sei die Ankündigung das Normalste der Welt. "Diese Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung", sagte Scholz damals. Er verwies auf die Nationale Sicherheitsstrategie, in der die Bundesregierung erklärte, sie wolle "abstandsfähige Präzisionswaffen" entwickeln. Von US-Raketen steht dort allerdings nichts.
Und dennoch ist die Entscheidung weitreichend, denn mit der Stationierung ab 2026 werden zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des INF-Vertrags 1988 wieder Ziele in Russland mit landgestützten Raketen von Deutschland aus bedroht.
Wenn das alles so absehbar war, wie der Kanzler sagt, muss man sich drei Wochen später fragen, warum gerade in Teilen seiner Partei - der SPD - der Widerstand gegen die Raketenstationierung wächst. Und warum allen voran der gewichtige Fraktionschef Rolf Mützenich vor dem Risiko einer militärischen Eskalation warnt.
Die "Fähigkeitslücke"
Seit dem NATO-Gipfel begründet Verteidigungsminister Pistorius die geplante US-Stationierung von Mittelstreckenraketen mit einer "ernstzunehmenden Fähigkeitslücke". Konkret wird darauf verwiesen, dass Russland nuklearfähige Iskander-Raketen und Kampfjets mit Hyperschall-Raketen vom Typ Kinschal in der Exklave Kaliningrad stationiert hat. Entfernung nach Berlin: 500 Kilometer.
In einem inhaltlich wenig aussagekräftigen Informationsbrief an die Bundestagsabgeordneten wird vor einer "massiven russischen Aufrüstung auch über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus" gewarnt. Die Bundesregierung geht also von einem militärischen Ungleichgewicht in Mitteleuropa zugunsten Russlands aus, dem etwas entgegengesetzt werden soll.
Konkret will man deshalb ab 2026 US-Waffensysteme unterschiedlicher Reichweite stationieren, sogenannte Tomahawk-Marschflugkörper und SM-6 Mehrzweckraketen. Und die neue US-Hyperschallwaffe Dark Eagle, die sich nach Angaben des deutschen Militärexperten und Brigadegenerals a.D., Heinrich Fischer, in der Endphase ihrer Entwicklung befindet. Sie fliege mit fünffacher Schallgeschwindigkeit und habe eine Reichweite von mehr als 2.500 Kilometern, schreibt er im Fachmagazin "Europäische Sicherheit & Technik".
Genau hier setzt ein Kritikpunkt von SPD-Fraktionschef Mützenich an. Er kritisiert, dass "die Raketen eine sehr kurze Vorwarnzeit haben und neue technologische Fähigkeiten eröffnen".
An einer Entscheidung zur Stationierung weitreichender US-Waffensysteme in Deutschland muss das Parlament nicht beteiligt werden. Zu diesem Schluss kommt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. In einer aktuellen Kurzinformation führt er aus, die für das Jahr 2026 geplante Stationierung dürfte sich "im Rahmen des NATO-Bündnissystems abspielen".
Die Rechtsgrundlagen aufgrund derer die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt eine Zustimmung erteilen könnte, dürften demnach der NATO-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag, der die Rechtsstellung ausländischer Streitkräfte in Deutschland regelt, in Verbindung mit den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sein.
Die fraktionslose Abgeordnete Joana Cotar hatte den Wissenschaftlichen Dienst um eine rechtliche Einschätzung zur Frage einer Befassung des Bundestages gebeten.
Stationierung in Deutschland
Viele Experten sind sich einig, dass Russland über ein breites Spektrum an landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügt, die aktuell im Ukraine-Krieg und zuvor in Syrien zum tödlichen Einsatz gekommen sind. Die NATO-Partner in Europa haben diese konventionellen, bodengestützten Marschflugkörper oder Mittelstreckenraketen bislang nicht. Sie haben aber "ein breites Arsenal von luft- und seegestützten Wirkmitteln", schreibt Wolfgang Richter in einer Analyse für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung. Der ehemalige Oberst ist deshalb nicht der Ansicht, dass es eine "Fähigkeitslücke" der NATO gibt.
Wissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sehen das anders. Sie betonen die Vorteile einer Stationierung der US-Raketen. Beispielsweise hätten "die drei Waffen völlig unterschiedliche Flugbahnen" und würden dadurch die Abwehr erschweren.
Unterschiedlich werden auch die Gefahren durch die Stationierung für Deutschland eingeschätzt. Die erwartbare "russische Gegenstationierung nuklearfähiger Raketen wird Deutschland einer erhöhten Gefährdung aussetzen", befürchtet Oberst a. D. Wolfgang Richter. Er rechnet damit, dass sich "das atomare Risiko im Konfliktfall gravierend erhöht".
Die SWP-Experten Jonas Schneider und Torben Arnold sehen in ihrer Analyse dagegen "keine großen zusätzlichen Risiken". Denn Putin sehe Berlin schon jetzt als Gegner. Als logistische NATO-Drehscheibe im Kriegsfall mit vielen US-Kasernen ist Deutschland schon jetzt "prioritäres Ziel für russische Abstandswaffen".
Fünf Jahre nach Ende des INF-Vertrags nimmt in Deutschland die Debatte um Mittelstreckenraketen an Fahrt auf. Die Bundesregierung hat noch viele offene Fragen zu beantworten - vermutlich nach der Sommerpause auch im Bundestag.