Völkermord in Ruanda Tödliches Schweigen?
Dass der Völkermord in Ruanda akribisch geplant war, ist heute erwiesen. Auch die deutsche Botschaft in Kigali hatte damals Kenntnisse über Pogrome und Massaker. Zeitzeugen werfen Deutschland Ignoranz, Desinteresse und Untätigkeit vor.
Pascal Bataringaya sitzt auf der Terrasse eines Apartments in Kigali. Unter seinem Jackett trägt er ein pinkfarbenes Hemd mit Kollar. Heute ist Bataringaya Vorsitzender der presbyterianischen Kirche Ruandas.
Vor 30 Jahren war er Mitglied im Kirchenchor, den der deutsche Pfarrer Jörg Zimmermann in Ruandas Hauptstadt leitete. Mit ihm habe er oft über die ruandische Politik diskutiert, über die angespannte Stimmung im Land.
Die Gräueltaten kündigten sich an
"Ein Genozid fällt nicht einfach so vom Himmel. So etwas kündigt sich an", sagt Bataringaya. Er erinnert sich an extremistische Hutu-Milizen, die schon ab 1993 immer öfter ungezügelt durch die Hauptstadt Kigali zogen, Straßensperren errichteten, Tutsi angriffen - bis hin zu Massakern.
Diese Machtdemonstrationen der Milizen, der Interahamwe, hat auch der evangelische Pfarrer Jörg Zimmermann noch vor Augen. Jeder wusste, dass sie Tutsi umbringen, sagt er. "Wer sagt, mir war das nicht klar, da weiß ich nicht, wo der gedanklich war. Das war eindeutig."
Die deutsche Botschaft in Kigali schien das nicht zu begreifen. In einem Schreiben an das Auswärtige Amt vom 21. März 1993 bezeichnete sie die Interahamwe-Milizen, die später maßgeblich am Völkermord beteiligt waren, lediglich als jugendliche Parteianhänger. Das belegen Akten.
Fehleinschätzungen und falsche Bewertungen
"Eine Fehleinschätzung von vielen", sagt Politikwissenschaftler Anton Peez. Er arbeitet am Peace and Research Institut und der Goethe Universität Frankfurt und hat sich bereits 2021 mit der Rolle der deutschen Außenpolitik Anfang der 1990er-Jahre in Ruanda auseinandergesetzt.
Besonderes Augenmerk legt Peez auf den Bericht eines Menschenrechtsbündnisses vom Jahresanfang 1993. Darin sei die Schwelle zum Völkermord konkret diskutiert worden. Das Auswärtige Amt in Bonn forderte eine Einschätzung der deutschen Botschaft an. Am 2. Februar 1993 schrieb die Botschaft:
Die pauschalen Vorwürfe 'Völkermord' und 'Kriegsverbrechen' könnten sich auf die an den Tutsi verübten Gewalttaten beziehen. In dem im Wort 'Völkermord' implizierten Ausmaß, nämlich in der Vernichtung eines ganzen Volkes, liegen die an der Ethnie der Tutsi verübten Verbrechen ganz sicher nicht.
Dass diese Vorwürfe aber nicht aus der Luft gegriffen waren, zeigte sich am 7. April 1994. In der Nacht zuvor wurde das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana abgeschossen, danach begann das Morden.
Der evangelische Pfarrer Zimmermann hörte den Knall. Am nächsten Morgen erfuhr er vom Tod des Präsidenten. Ihm sei klar gewesen, dass alle Tutsi und Oppositionellen in Lebensgefahr seien. Er rechnete mit Massakern und Pogromen. "Das, was dann passiert ist, habe ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorgestellt."
Fast eine Million Menschen wurden in nur 100 Tagen brutal abgeschlachtet. Und die Weltgemeinschaft schaute zu. Dabei hätte sie vor dem Genozid reagieren können. Die Fakten lagen auf dem Tisch. Auch in der deutschen Botschaft in Kigali und im Auswärtigen Amt in Bonn.
Deutschland hätte ein Druckmittel gehabt
Zwar spielte Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern wie der ehemaligen Kolonialmacht Belgien oder Frankreich, dessen Regierung enge Beziehungen zum Genozid-Regime pflegte, keine zentrale Rolle vor dem Völkermord in Ruanda. Trotzdem war das Land einer der größten Geldgeber für Entwicklungshilfe.
Politikwissenschaftler Peez verweist darauf, dass Staaten wie Kanada schon 1992 ihr Budget für die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt hätten - als Reaktion auf die dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage in Ruanda.
Die Akten des Auswärtigen Amtes hingegen belegen, dass Deutschland mit Ruanda noch Ende 1993 über neue Entwicklungshilfen verhandelte. Und die Akten zeigen auch Versagen an anderer Stelle: Streitigkeiten zwischen dem Auswärtigen Amt, dem Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit und dem Verteidigungsministerium. Keine Einigkeit, zu wenig Absprachen, sagt Peez.
Ähnliches hat die Bundesregierung 2021 in Afghanistan erlebt. Auch dort wurden Warnungen lange Zeit nicht ernst genommen. Die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien lief schlecht, so steht es im Bericht der Enquete-Kommission.
Bis heute keine unabhängige Aufarbeitung
Das Auswärtige Amt erklärt dazu, man habe das Instrumentarium zur Krisenprävention in den letzten Jahren deutlich erweitert und dabei immer auch "lessons learned" eingearbeitet. 2017 habe die Bundesregierung ein ressortübergreifendes Gesamtkonzept für den Umgang mit internationalen Krisen und bewaffneten Konflikten erstellt.
Einer unabhängigen Aufarbeitung der Rolle der deutschen Außenpolitik stehe das Auswärtige Amt zwar offen gegenüber, eine Kommission wurde aber bis jetzt nicht eingesetzt. 30 Jahre nach dem Völkermord gegen die Tutsi in Ruanda ist die Rolle Deutschlands also nur ansatzweise erforscht.
Auf der Terrasse in Kigali geht Pascal Bataringaya hart mit Deutschland ins Gericht. Schon aufgrund seiner eigenen Geschichte hätte Deutschland begreifen müssen, dass sich etwas zusammenbraute. Und die Verantwortung für das "nie wieder", sagt der Ruander, hätte Deutschland zum Handeln treiben müssen.
Mehr zu diesem Thema hören Sie im ARD-Radiofeature "Tödliches Schweigen" in der ARD-Audiothek.