Interview

Interview zum Kachelmann-Prozess "Viele Medien haben Partei ergriffen"

Stand: 31.05.2011 09:13 Uhr

Mehr als ein Jahr hat der Fall Kachelmann Gerichte, Medien und Öffentlichkeit beschäftigt. Jetzt ist das Urteil ergangen. Der ARD-Rechtsexperte Bräutigam kritisiert, einige Medien hätten sich in dem Verfahren auf eine Seite geschlagen - und es an Respekt vor dem Gericht vermissen lassen.

tagesschau.de: Rund 50 akkreditierte Journalisten sind beim Kachelmann-Prozess dabei. Haben Sie schon einmal ein ähnliches Interesse erlebt?

Frank Bräutigam: Das Interesse ist wirklich außergewöhnlich, da muss man schon die älteren Kollegen fragen, wann es das letzte Mal so eine Aufmerksamkeit gab. Der Prozess gegen Monika Weimar in den 1980er Jahren war wohl ähnlich spektakulär.

tagesschau.de: Warum ist die öffentliche Aufmerksamkeit so enorm?

Bräutigam: Es ist die Mischung aus der Bekanntheit des Angeklagten sowie des Vorwurfs der Vergewaltigung. Ein Thema, das die Boulevard-Medien gerne aufgreifen. Dadurch entsteht eine Dynamik, die kaum aufzuhalten ist.

tagesschau.de: Welche Folgen hat dieses Interesse für den Prozess?

Bräutigam: Das Gericht darf sich von diesem großen Medieninteresse nicht beeindrucken lassen. Aber natürlich lesen auch Richter und Schöffen Zeitung. Da ist es sicherlich nicht einfach, dies alles auszublenden. Wissenschaftliche Studien, beispielsweise der Uni Mainz, haben bereits gezeigt: Medienberichterstattung kann Richter bei der Höhe des Strafmaßes beeinflussen.

" Interna wurden sehr früh bekannt"

tagesschau.de: Gutachten und Teile aus Akten sickerten schon vor Verfahrensbeginn an die Presse durch. Wie konnte das passieren und welche Folgen hatte das?

Bräutigam: Woher diese Unterlagen kamen, ist weiterhin unklar. Es wurde mit dem Finger besonders auf die Staatsanwaltschaft gezeigt, doch wenn man die Berichterstattung zu den Akten verfolgt hat, so konnte man sehen, dass nicht nur zu Lasten Kachelmanns zitiert wurde, sondern auch zu seinen Gunsten. Nur eine Quelle festmachen zu wollen, scheint zu einfach. Aber es wurden Interna sehr früh bekannt - und so bestand die Möglichkeit, sich einzelne Punkte herauszusuchen, um den Gang des Verfahrens in eine Richtung zu lenken.

tagesschau.de: Zunächst galt Kachelmann in der Öffentlichkeit als Sex-Monster, wurde geradezu vorverurteilt. Jetzt haben Medien bereits vor dem Urteil über einen Freispruch spekuliert. Der "Spiegel" titelt in dieser Woche mit dem Thema "Fehlurteile" und listet bekannte Fälle auf. Wie bewerten Sie die Berichterstattung insgesamt?

Bräutigam: Besonders auffallend war, wie früh in diesem Verfahren Partei ergriffen wurde. Auch seriöse Medien haben sich sehr früh auf eine Seite geschlagen. Entweder hieß es, das reiche nie und nimmer für eine Anklage oder, Kachelmann müsse wohl schuldig sein. Es ist zwar die Aufgabe der Presse zu kritisieren, wenn man Missstände erkennt, aber nicht schon während des Verfahrens zu urteilen: schuldig oder nicht schuldig.

tagesschau.de: Wird dadurch auch das Gericht beschädigt oder das Vertrauen in die Justiz erschüttert, wenn Journalisten meinen, sie müssten vorab öffentlich schon ein Urteil fällen?

Bräutigam: Ich würde es eher mangelnden Respekt nennen, wenn Geld gezahlt wird an Zeuginnen, die noch vor Gericht aussagen, damit deren Geschichten vorab abgedruckt werden können.

"Schutzfunktion sehr wichtig"

tagesschau.de: Die Öffentlichkeit wurde mehrmals ausgeschlossen, um das mutmaßliche Opfer zu schützen. Aber auch bei der Aussage von Zeuginnen wurden Beobachter ausgesperrt. War das immer nötig?

Bräutigam: Die Schutzfunktion ist grundsätzlich sehr wichtig, damit sich Opfer oder Zeugen öffnen können, ohne dass da ein vollbesetzter Gerichtssaal mithört. Allerdings wurde die Öffentlichkeit auch bei Zeuginnen, ehemaligen Freundinnen des Angeklagten, ausgeschlossen, die sich zuvor bereits gegen Geld sehr deutlich in den Medien geäußert hatten. Da kann man sich schon fragen, ob der Schutzzweck noch besteht.

tagesschau.de: Für großes Aufsehen hatte der Wechsel bei der Verteidigung gesorgt. Was hat sich danach an der Strategie der Verteidigung geändert?

Bräutigam: Es gab einen veränderten Ton im Gerichtssaal. Rechtsanwalt Johann Schwenn hat sehr klar auf Konfliktverteidigung gesetzt. Er hat sich mit allen Parteien angelegt, mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht selbst - da ging es verbal hart zur Sache. Und er hat große Attacken gegen die Medien geritten, ihnen unterstellt, bestimmte Verlage würden Kachelmann mit Kampagnen bewusst beschädigen. Der Ton war nach dem Anwaltswechsel äußerst rau im Gerichtssaal.

tagesschau.de: Welches Ziel hatte er, sich mit allen anzulegen?

Bräutigam: Es ist nicht Aufgabe eines Verteidigers, jedermanns Freund zu sein. Als Kachelmann seinen Anwalt wechselte, gingen viele davon aus, dass es durchaus zu einer Verurteilung kommen könnte. Und da dürfte die Strategie gewesen sein, neues Leben ins Verfahren zu bringen, also auch Fehler zu provozieren, die man in einer möglichen Revision wieder angreifen kann.

Hohe Anzahl der Gutachten als Vorteil

tagesschau.de: Welche Rolle spielten die Gutachter in dem Prozess?

Bräutigam: Die Anzahl der Gutachter war sehr hoch. Das liegt auch daran, dass sich ein prominenter Angeklagter mehrere Gutachter leisten kann. Das ist sicherlich ein gewisser Vorteil, denn die Gutachten spielen bei Vergewaltigungsprozessen eine ganz entscheidende Rolle. Bei diesen Verfahren gibt es zumeist eben nur zwei Personen, die bei dem Geschehen dabei waren. Und so steht Aussage gegen Aussage, wie es auch im Kachelmann-Prozess der Fall ist. Daher muss sich das Gericht sehr gewissenhaft ein Bild von der Glaubwürdigkeit der Hauptbelastungszeugin machen, und unterstützend müssen die verschiedenen Spuren durch Rechtsmediziner sehr genau untersucht werden. Das sind verschiedene Mosaiksteinchen, die zusammengesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft kam so zu der Ansicht, die Indizien reichen für eine Verurteilung, die Verteidigung hat hingegen jedes Indiz in der Luft zerrissen und Freispruch gefordert.

tagesschau.de: "Man kann alle Indizien auch anders werten", sagte Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge. Für den juristischen Laien klingt das so, als wenn hier das Prinzip "Im Zweifel für den Angeklagten" greifen müsste.

Bräutigam: Die Voraussetzung für eine Verurteilung ist, dass ein Gericht wirklich von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist. Diese Überzeugung kann aus einem Heer von Indizien zusammengesetzt werden, wenn man diese für überzeugend hält. Doch wenn es insgesamt Zweifel gibt, dann heißt es "Im Zweifel für den Angeklagten". Das kommt aber erst ganz zum Schluss, wenn sich die Richter ein Gesamtbild gemacht haben.

Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de