Deutscher Städtetag zum Kita-Ausbau "Die Lücke bleibt"
Mehr als genug oder viel zu wenig? Städtetag-Präsident Maly fürchtet im Interview mit tagesschau.de, dass niemand weiß, wie viele Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahre tatsächlich zu Verfügung stehen. Und auch nicht, wie viele tatsächlich gebraucht werden.
tagesschau.de: Kristina Schröder als die zuständige Ministerin vermeldet in Sachen Kita-Ausbau eine Erfolgsgeschichte. Der Deutsche Städtetag sieht eine Lücke von 100.000 Plätzen. Wie kommt diese Diskrepanz zustande?
Ulrich Maly: Ich glaube, dass keiner genau weiß, was die richtigen Zahlen sind. Die Ministerin geht jetzt von genehmigten und bewilligten Plätzen aus und kommt damit auf 800.000 Plätze. "Bewilligt" sind aber auch Plätze, die noch gar nicht fertig gebaut sind. Das heißt: Diese Plätze sind teilweise noch gar nicht real vorhanden. Die andere Zahl, die den unteren Rand markiert, ist eine echte Kopf-Zählung des Statistischen Bundesamts. Dort hat man zum 1.3.2013 alle betreuten Kinder unter drei Jahren gezählt und kam auf 597.000. Wir stellen also fest, dass die amtlichen Zahlen um 200.000 voneinander abweichen.
Ich vermute, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen wird. Wir werden jetzt zum 1.8. wahrscheinlich über 670.000 oder 680.000 Plätze verfügen können, denn seit März sind natürlich auch zahlreiche Einrichtungen "ans Netz gegangen". Bleibt eben diese Lücke von 100.000 Plätzen, und diese Zahl halte ich nach wie vor für plausibel.
Seit April 2013 ist der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly neuer Präsident des Deutschen Städtetags. Der Sozialdemokrat, Jahrgang 1960, folgte dem Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude nach, der nicht mehr kandidierte. Der Deutsche Städtetag vertritt die Interessen von rund 3400 Städte und Gemeinden mit mehr als 51 Millionen Einwohnern.
Keine Misserfolgsmeldung vor der Wahl
tagesschau.de: Wie viele Plätze werden tatsächlich gebraucht?
Maly: Die Bundesfamilienministerin geht von der Betreuungsquote aus, die beim Krippengipfel festgelegt wurde. Die liegt, bezogen auf die Jahrgänge 2002 und 2003, bei 39 Prozent. Wir glauben aus städtischer Sicht, dass diese Quote zu niedrig ist. Das heißt, dass wir davon ausgehen, dass wir auch nach dem Ausbau der 780.000 Plätze, wann immer der abgeschlossen ist, noch weitere Bauaktivitäten brauchen. Deswegen fordern wir, dass Bund und Länder sich weiter an der Finanzierung beteiligen.
tagesschau.de: Schröder spricht von einem "beachtlichen Endspurt". Reicht Ihnen das als Erklärung oder vermuten Sie gar geschönte Zahlen, womöglich auch in Hinblick auf die Bundestagswahl?
Maly: Na ja. Dass man 70 oder 75 Tage vor der Wahl keine Misserfolgsmeldung heraus gibt, versteht sich von selbst. Frau Schröder war in den vergangenen Jahren auch anders zu hören. Da hat sie selbst von einem Skandal gesprochen und dass nichts klappt. Schuld waren aber immer die anderen. Mir geht es aber nicht um einen Beautycontest "Wer nennt die schönste Zahl?", sondern um die berechtigten Wünsche der Bürger. Deswegen mache ich den simpelsten aller Vorschläge: Wenn wir für das letzte Kind, das einen Platz braucht, einen gebaut haben – dann sind wir fertig. So lange währt diese Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Kommunen.
Klagen löst das Problem nicht
tagesschau.de: Was bedeutet das praktisch für den 1.8.: Bekommt jeder einen Betreuungsplatz, der einen will und braucht?
Maly: Es kriegt fast jeder, der will, einen Platz. Aber es kann in manchen Städten passieren, dass man keinen kriegt, nicht gleich einen kriegt, nicht den kriegt, den man sich wünscht. Ich gehe davon aus, dass die Jugendämter entsprechende Stellen einrichten werden, die sich um individuelle Problemlösungen bemühen. Wenn der Rechtsanspruch zum 1.8. nicht erfüllt werden kann, gibt es die Möglichkeit, auf Schadensersatz zu klagen, wenn ein Schaden eingetreten ist. Das kann aber nicht die Lösung sein. Wir werden uns bemühen, zum Beispiel ein Übergangsangebot wie eine Tagesmutter oder eine altersübergreifende Einrichtung zu machen. Ziel muss sein, dem Betreuungswunsch zu entsprechen.
tagesschau.de: Keiner der Beteiligten, auch Sie nicht für den Städtetag, befürchtet eine Klagewelle. Warum nicht?
Maly: Ich hoffe es nicht. Aber es kann schon passieren, dass der eine oder andere, der mit einer Rechtsschutzversicherung armiert ist, sich sagt: Jetzt ärgere ich meine Kommune, wenn die so schlecht liefert. Ich will gern noch mal für die Kolleginnen und Kollegen Bürgermeister eine Lanze brechen. Ich kenne keinen, der den Krippenausbau nicht vorangetrieben hat. Nicht, weil die Bundesfamilienministerin uns gesagt hat, dass wir’s tun sollen, sondern weil wir wissen, was die Menschen wollen.
Licht und Schatten beim Ausbau
tagesschau.de: Wo hapert es noch, wenn es hapert?
Maly: Wir haben den höheren Bedarf eindeutig im städtischen Bereich. Dort leben mehr Alleinerziehende, mehr Doppelverdiener, mehr Lebensentwürfe, die Betreuung notwendig machen. Wir werden am Ende Versorgungsquoten von 60 Prozent oder sogar darüber brauchen. Das lehrt uns die Erfahrung aus Städten im Osten wie Leipzig oder Dresden.
tagesschau.de: Angeblich gibt es auch ausreichend Erzieherinnen und Erzieher. Schließen Sie sich dieser positiven Einschätzung an?
Maly: Für Nürnberg kann ich sagen, dass wir noch Erzieher bekommen, wenn wir Stellen ausschreiben. Aber die Zahl der Bewerbungen nimmt signifikant ab. Das heißt: Wir laufen natürlich auf einen Bewerbermangel zu. In anderen Städten, wie in München, ist das Leben so teuer, dass man von einem Erziehergehalt kaum noch leben kann. Dort gibt es dann echte Rekrutierungsprobleme. Wir müssen also schon die Zahl an Ausbildungsmöglichkeiten an den Fachakademien erhöhen, aber das allein löst das Problem nicht. Wir müssen uns auch Gedanken über die Attraktivität des Erzieherberufs machen. Das sind Denksportaufgaben für die nächste Zeit.
tagesschau.de: Der gesamte Prozess des Betreuungsausbaus läuft seit 2007. Was ist dabei schlecht und was ist womöglich auch beispielhaft gelaufen?
Maly: Beispielhaft ist die Kooperation von Bund, Ländern und Gemeinden. Bei großen gesellschaftlichen Aufgaben wie Kinderbetreuung oder auch Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit halte ich es für richtig, wenn die staatlichen Ebenen zusammen arbeiten - jenseits von etwaigen Koorperationsverboten. Das ist vorbildlich gelaufen. Was uns immer geärgert hat, ist die Arbeitsteilung. Bund und Länder haben etwas versprochen, was sie amtlich machen und mit einem Rechtsanspruch bewehren. Liefern müssen die Kommunen. Wir waren weder bei der Definition der Zielgröße noch des Zieldatums dabei. Das Versprechen wurde also über unsere Köpfe hinweg gegeben. Der Ärger aber wird an der Rathaustür abgeladen.
Das Interview führte Ute Welty, tagesschau.de