Sondierungsgespräche Im Freistil nach Jamaika
Sondieren, koalieren, regieren: Wie diese Verhandlungen auf dem Weg zu einem Regierungsbündnis aussehen, steht in keinem Gesetz. Es sind "Freistil-Verhandlungen". Wer ist dabei und geht es neben Inhalten auch ums Personal? Ein Überblick.
Wie nach allen bisherigen Bundestagswahlen soll Deutschland auch in den kommenden vier Jahren von einer Koalition regiert werden. Weil sich die SPD auf die Oppositionsrolle festgelegt hat, müssen sich aber zum ersten Mal seit den 1950er-Jahren mehr als drei Parteien auf eine gemeinsame Regierungspolitik einigen: CDU, CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen suchen nach der inhaltlichen Basis für ein Jamaika-Bündnis - erst in Sondierungsgesprächen und voraussichtlich danach in Koalitionsverhandlungen.
"Freistil-Verhandlungen"
Wie die Koalitionsverhandlungen nach einer Wahl ablaufen, ist nirgendwo gesetzlich festgeschrieben. Im Gegensatz zu einigen anderen Ländern erteilt das Staatsoberhaupt niemandem den Auftrag zur Regierungsbildung. In Deutschland sprechen Forscher daher von "Freistil-Verhandlungen", weil theoretisch alle Fraktionen versuchen können, gemeinsam eine Regierung zu bilden.
Die Einladung zu Gesprächen verschickt aber in aller Regel die Partei, die rechnerisch und politisch die größten Chancen hat, eine Regierungskoalition zu bilden und zu führen. Das muss nicht immer die Partei mit den meisten Stimmen oder Parlamentssitzen sein.
Sondierungen: Wer ist bereit zu verhandeln?
Bevor die möglichen Koalitionspartner offiziell Verhandlungen aufnehmen und sich an die inhaltlichen Details machen, führen sie in der Regel Sondierungsgespräche. Die Parteien tasten sich aneinander heran und loten aus, ob es überhaupt Überschneidungen gibt. "Es muss aber keine Sondierungen geben, wenn schon vor der Wahl klare Koalitionspartner feststanden", sagt der Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Universität Trier. So stiegen CDU/CSU und FDP nach der Wahl 2009 sofort in Koalitionsverhandlungen ein. Diesmal wird aber erst einmal sondiert. Keine der beteiligten Parteien hatte im Wahlkampf eine klare Koalitionsaussage getroffen - und keine der vier Parteien will sich von vornherein auf das Jamaika-Bündnis festlegen, auch wenn es derzeit die einzige Option zu sein scheint.
Insbesondere die Union zögerte den Beginn der Sondierungsgespräche bis nach der Landtagswahl in Niedersachsen hinaus. FDP und Grüne hatten öffentlich auf einen früheren Beginn gedrängt - doch schon über die Formalitäten der Sondierungsgespräche stritten sich die potenziellen Koalitionspartner. Klar ist erst seit dem 9. Oktober, dass die Treffen nicht in großer Runde beginnen, sondern dass sich die Unionsparteien erst mit der FDP und dann mit den Grünen zusammensetzen und danach die Liberalen mit den Grünen sprechen. Sobald dieses bilateralen Auftaktrunden absolviert sind, kommen die vier Parteien am 20. Oktober erstmals in großer Runde zusammen.
18. Oktober: CDU und CSU treffen sich mit der FDP zu ersten Gesprächen. Anschließend sind Gespräche der Unionsparteien mit den Grünen geplant.
19. Oktober: FDP und Grünen sprechen miteinander - und ohne die Union - über eine mögliche Koalition.
20. Oktober: Erstmals loten alle beteiligten Parteien - CDU, CSU, FDP und Grüne in einer gemeinsamen Sondierungsrunde die Möglichkeiten eines Jamaika-Bündnisses aus.
Danach folgen weitere Gesprächsrunden. Der Terminplan dafür ist noch nicht bekannt. Unklar ist auch, wie schnell auf Grundlage der Sondierungsergebnisse offizielle Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden könnten.
Erst Sachfragen, dann Personalfragen
Auch wenn es für die offiziellen Koalitionsverhandlungen keine gesetzlichen Regelungen gibt, haben sich doch in der Vergangenheit bestimmte Vorgehensweisen bewährt. Zu Beginn der Verhandlungen bilden die beteiligten Parteien in der Regel eine Steuerungsgruppe: Dazu gehören üblicherweise die Partei- und Fraktionsvorsitzenden sowie die Spitzenkandidaten.
Die inhaltlichen Fragen werden allerdings eine Ebene tiefer verhandelt: Hier bilden sich Arbeitsgruppen mit Sachpolitikern, die auf einzelnen Politikfeldern gemeinsame Vorhaben für die kommende Legislaturperiode ausarbeiten. In die Sondierungsgespräche für die Jamaika-Koalition geht die CDU mit einem 18-köpfigen Team und die CSU mit einem zehnköpfigen Team. Die FDP-Sondierungsgruppe umfasst 13 Mitglieder (darunter ein vierköpfiges Kernteam), die der Grünen 14 Mitglieder.
Üblicherweise werden auch die Ministeranwärter der Parteien in die Verhandlungen mit einbezogen, damit sie den Koalitionsvertrag später auch mittragen können. Eigentlich gilt die eherne Regel, dass zuerst Sachfragen und dann über Ministerämter diskutiert wird. "In der Praxis wird das aber nicht eingehalten", sagt Politikwissenschaftler Jun. "Die künstliche Trennung zwischen Sach- und Personalfragen soll nach außen ein sachliches Arbeitsklima vermitteln, intern wird aber längst über Ministerämter entschieden."
Koalitionsverträge nicht rechtlich bindend
Dass Koalitionen überhaupt Verträge über ihre Zusammenarbeit abschließen, ist keine Selbstverständlichkeit. Das zeigt der Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik. So trafen die Koalitionäre vor allem in den ersten Wahlperioden des Bundestages oft nur lose, teils nicht veröffentlichte Absprachen. Teilweise stimmten sich die Parteien nur per Briefwechsel oder mündlich ab.
Politikwissenschaftler Jun hält einen detaillierten Koalitionsvertrag für heutige Koalitionen allerdings für wichtig. "Ein Koalitionsvertrag gibt das Arbeitsprogramm der Regierung vor." Je konkreter die Vorgaben, desto erfolgversprechender sei die Zusammenarbeit in der Koalition. Rechtlich bindend sind Koalitionsverträge nach Ansicht vieler Juristen allerdings nicht. Denn: Gesetze verabschieden die Parlamentarier im Bundestag und die sind laut Grundgesetz nur ihrem Gewissen unterworfen - es muss ihnen also auch möglich sein, in Abstimmungen gegen den Koalitionsvertrag zu "verstoßen".
Künftig längere Übergangszeiten
Im Schnitt dauert es rund 37 Tage vom Wahltag bis zum Ende der Koalitionsverhandlungen und knapp 43 Tage bis das neue Kabinett vereidigt ist. Bei der Bundestagswahl 2013 lagen zwischen Wahl und Vereidigung allerdings 86 Tage - so viele wie nie zuvor. Der Grund: Die SPD ließ sich den Koalitionsvertrag in einer Mitgliederbefragung von ihrer Basis bestätigen.
Für die laufende Regierungsbildung haben Grüne und FDP bereits vor der Wahl angekündigt, ihre Mitglieder über einen Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen. Die CSU plant, einen Koalitionsvertrag durch einen Parteitag billigen zu lassen: Entweder durch den regulären Parteitag im November, der möglicherweise deswegen noch auf Dezember verlegt wird, oder durch einen eigens einberufenen Parteitag. Für die CDU kündigte Parteichefin Angela Merkel Anfang Oktober an, dass ebenfalls ein Sonderparteitag über eine Koalitionsvereinbarung abstimmen solle.
Wahlperiode | Dauer der Koalitions-verhandlungen | Wahl bis Ende Koalitions-verhandlungen | Wahl bis Vereidigung Kabinett | Koalitionsparteien zu Beginn der Wahlperiode |
---|---|---|---|---|
1949-1953 | 10 | 33 | 37 | CDU, CSU, FDP, DP |
1953-1957 | 39 | 43 | 44 |
CDU, CSU, FDP, DP GB/BHE |
1957-1961 | 33 | 38 | 44 | CDU, CSU, DP |
1961-1965 | 42 | 57 | 58 | CDU, CSU, FDP |
1965-1969 | 6 | 29 | 37 | CDU, CSU, FDP |
1969-1972 | 15 | 17 | 24 | SPD, FDP |
1972-1976 | 22 | 24 | 26 | SPD, FDP |
1976-1980 | 50* | 82* | 84* | SPD, FDP |
1980-1983 | 7 | 29 | 32 | SPD, FDP |
1983-1987 | 5 | 16 | 24 | CDU, CSU, FDP |
1987-1990 | 32 | 43 | 46 | CDU, CSU, FDP |
1990-1994 | 41 | 45 | 47 | CDU, CSU, FDP |
1994-1998 | 15 | 26 | 32 | CDU, CSU, FDP |
1998-2002 | 20 | 23 | 30 | SPD, Grüne |
2002-2005 | 21 | 24 | 30 | SPD, Grüne |
2005-2009 | 25 | 54 | 65 | CDU, CSU, SPD |
2009-2013 | 21 | 29 | 31 | CDU, CSU, FDP |
2013-2017 | 35 | 66 | 86 | CDU, CSU, SPD |
* Wegen des frühen Wahltermins - mehr als zwei Monate vor Ende der Wahlperiode - sind die Zahlen nicht den Regierungsbildungen der anderen Wahlperioden vergleichbar
Bundestag kann ohne neue Regierung arbeiten
"Wir müssen uns an längere Regierungsbildungen gewöhnen", glaubt Politikwissenschaftler Jun auch mit Blick auf die zeitaufwändigen Entscheidungsprozesse nach den eigentlichen Verhandlungen. Der neue Bundestag, der am 24. Oktober erstmals zusammentritt, ist unabhängig davon voll handlungsfähig. Er kann auch ohne Einigung auf eine Koalition jederzeit Gesetze beschließen und Entscheidungen mit Mehrheit treffen.
Die bisherige Bundesregierung bleibt ihrerseits geschäftsführend im Amt, bis die Mitglieder der neuen Regierung vereidigt sind. Das könnte bis zum neuen Jahr dauern - denn eine Frist für die Regierungsbildung sieht das Grundgesetz nicht vor.