Übergriffe in der Silvesternacht Was wir über Köln wissen
Nach den massiven Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht in Köln sind inzwischen mehr als 650 Anzeigen eingegangen. Was wissen wir über die mutmaßlichen Täter? Welche Fehler machte die Polizei bei ihrem Einsatz? tagesschau.de gibt einen Überblick.
Was genau hat sich vor dem Hauptbahnhof abgespielt?
Erst nach und nach wurde bekannt, was sich rund um den Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht abgespielt hat. Ab etwa 21 Uhr soll sich eine "große Masse an Störern" - etwa 500 Männer - auf dem Bahnhofsvorplatz befunden haben. Sie zündeten Böller und Raketen aufeinander, auf friedliche Besucher und auf Polizisten. Die Gruppe soll innerhalb von zwei Stunden auf etwa 1000 Männer angestiegen sein. Sie bildete, so NRW-Innenminister Ralf Jäger, die Kulisse für die Gewalttaten. Aus dieser großen Masse sollen sich Gewalttäter und Räuber heraus gelöst haben, die Frauen in Gruppen eingekesselt und massiv bedrängt und attackiert haben. Aus der Silvesternacht gibt es einige Amateurvideoaufnahmen, die das Geschehen rund um den Kölner Hauptbahnhof zeigen. Allerdings gibt es bislang keine Fotos oder Videos, die im Bahnhof aufgenommen wurden.
Wie viele Anzeigen sind inzwischen eingegangen?
Der Polizei liegen - Stand Dienstagnachmittag - 561 Strafanzeigen vor. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft von 650 Anzeigen gesprochen, korrigierte die Zahl aber später wieder nach unten. Es habe sich um einen Übermittlungsfehler der Polizei gehandelt.
Zu der Zahl der angezeigten Sexualstraftaten wollte die zuständige Staatsanwaltschaft keine Angaben machen. Noch am Montagnachmittag war von 516 Strafanzeigen die Rede gewesen. In 237 Fällen handele es sich dabei um mutmaßliche Sexualdelikte. In 107 dieser Sexualfälle sei gleichzeitig ein Diebstahl angezeigt worden. Bei den übrigen 279 angezeigten Straftaten handele es sich um mutmaßliche Eigentums- und Körperverletzungsdelikte.
Woher stammen die mutmaßlichen Täter?
Zu den Tatverdächtigen der Übergriffe gehören nach Darstellung von Innenminister Jäger fast nur Menschen mit Migrationshintergrund. "Sowohl die Zeugenaussagen als auch der Bericht der Polizei Köln sowie die Schilderungen der Bundespolizei deuten darauf hin, dass es fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund waren, die diese Straftaten begangen haben", sagte Jäger. "Ebenfalls spricht vieles dafür, dass es Nordafrikaner wie auch Menschen aus dem arabischen Raum waren."
Wie viele Festnahmen gab es bereits?
Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt aktuell gegen zwölf Beschuldigte. Fünf der Tatverdächtigen sind dem Innenministerium zufolge bereits in Untersuchungshaft, den Männern aus Nordafrika wird Diebstahl und Raub in unmittelbaren Zusammenhang mit den Ereignissen in der Silvesternacht vorgeworfen.
Die Kölner Polizei und Bundespolizei hatten zuvor jeweils von mehr als 20 Verdächtigen berichtet und zuletzt etwa 45 Prozent der Anzeigen Sexualstraftaten zugeordnet. Seit Dienstag ist allerdings die Kölner Staatsanwaltschaft zentraler Ansprechpartner für Fragen zu den Übergriffen - und nicht mehr die wegen ihrer Medienarbeit vielfach kritisierte Kölner Polizei.
Warum konnte die Polizei die Übergriffe nicht verhindern?
Zentrales Problem war nach Angaben der Kölner Polizei, dass die Vorfälle in Kleingruppen und abgeschirmt passiert seien. Dies sei nicht einsehbar gewesen. Als die Gewalt eskalierte, wurde der Bahnhofsvorplatz geräumt. Die 142 Polizisten des Landes und die knappe Hundertschaft von Bundespolizisten war nicht in der Lage, die Situation in den Griff zu bekommen.
Schätzte die Kölner Polizei die Lage falsch ein?
Ja. Laut NRW-Innenminister Ralf Jäger hat die Polizei die Lage falsch eingeschätzt. Er sieht bei der Kölner Polizei gravierende Fehler. Jäger sagte bei der Vorstellung des offiziellen Berichts zu dem Einsatzgeschehen, die Kölner Polizei habe von etwa 21 Uhr bis in den Vormittag des Neujahrstags hinein "kein einheitliches Bild der Lage in ihrer Behörde" gehabt: "Das Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat, ist nicht akzeptabel", sagte der SPD-Politiker.
Der nordrhein-westfälische Polizeinspektor Bernd Heinen berichtete bei der Sondersitzung des NRW-Innenausschusses, die Kölner Polizei habe keine Verstärkung angefordert. Dabei hätten viele Einsatzreserven zur Verfügung gestanden. Gegen 23.30 Uhr sei die Landesleitstelle der NRW-Polizei informiert worden. Während des Telefonats hätte die Leitstelle Unterstützungskräfte angeboten. Der Dienstgruppenleiter der Leitstelle des Polizeipräsidiums Köln habe deren Einsatz jedoch nicht für nötig gehalten.
In einem internen Einsatzbericht beklagt ein Bundespolizist die viel zu geringe Zahl eingesetzter Beamter. Während der Ausschreitungen am Hauptbahnhof hätten Frauen Schutz bei der Polizei gesucht, heißt es in dem Bericht. Im Gespräch mit einem führenden Landespolizisten habe er sogar befürchtet, dass das "Chaos noch zu erheblichen Verletzungen wenn nicht sogar zu Toten führen würde", schreibt der Beamte.
Wurde die Öffentlichkeit über die Ereignisse nicht ausreichend informiert?
Hier sieht NRW-Innenminister Jäger einen weiteren gravierenden Fehler bei der Kölner Polizei. Sie habe die Öffentlichkeit über die Ereignisse der Nacht nicht ausreichend informiert. Jäger erklärte ausdrücklich, dass es aus seinem Ministerium keine Anweisung gab, die Herkunft oder den Status der Tatverdächtigen zu verschweigen.
Auch hier: Verantwortlich für die schlechte Öffentlichkeitsarbeit seien die Kölner Polizei und insbesondere der seit Freitag in den einstweiligen Ruhestand versetzte Polizeipräsident Wolfgang Albers. Er musste seinen Hut vor allem wegen des schlechten Krisenmanagements nehmen. Jäger begründete die Entscheidung, Albers in den Ruhestand zu versetzen, mit verlorengegangenem Vertrauen. Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, kritisierte Albers' Krisenmanagement als "kommunikatives Desaster".
Kritisiert wurde immer wieder, dass die Kölner Polizei noch an Neujahr einen Bericht an die Öffentlichkeit gab, der von einer entspannten Einsatzlage in der Silvesternacht berichtete. Zudem wurde Albers vorgeworfen, Details zur Herkunft der Verdächtigen zurückgehalten zu haben.
Handelt es sich um organisiertes Verbrechen?
Die Polizei hat nach Angaben des NRW-Landeskriminaldirektors bisher keine Erkenntnisse, dass die Übergriffe in Köln an Silvester im Vorfeld geplant und abgesprochen waren. "Ermittlungsergebnisse dazu, dass das Auftreten der Gesamtgruppe oder von Teilgruppen anlässlich der Silvesterfeierlichkeiten in Köln organisiert beziehungsweise gesteuert war, liegen bisher nicht vor", heißt es in dem Bericht des ranghöchsten Kriminalbeamten des Landes, Dieter Schürmann. Er sagte in einer Sondersitzung des NRW-Innenausschusses: "Dass es bundesweit (...) zu vergleichbaren Straftaten gekommen ist, lässt eher darauf schließen, dass die Delikte nicht zeitlich oder hierarchisch organisatorisch vorgeplant wurden."
Bundesjustizminister Heiko Maas vermutete in einem Interview hinter den Silvester-Angriffen auf Frauen in Köln eine organisierte Absprache der Täter. "Wenn sich eine solche Horde trifft, um Straftaten zu begehen, scheint das in irgendeiner Form geplant worden zu sein", sagte Maas. Laut Maas liegt der Verdacht nahe, "dass hier ein bestimmtes Datum und zu erwartende Menschenmengen herausgesucht" worden seien.
Welche Konsequenzen ziehen Polizei und Stadt Köln aus den Übergriffen?
Die Stadt Köln wird nach den Worten von Oberbürgermeisterin Henriette Reker verstärkt auf Prävention setzen - gerade auch mit Blick auf Karneval. Dazu gehöre auch, Menschen aus anderen Kulturkreisen besser zu erklären, was Karneval bedeute. "Damit hier nicht verwechselt wird, was ein fröhliches Verhalten ist und was mit einer Offenherzigkeit, insbesondere mit einer sexuellen Offenherzigkeit, überhaupt nichts zu tun hat." Mit der Polizei wurden ihren Angaben zufolge konkrete Maßnahmen verabredet. Als Beispiele nannte Reker, dass die Stadt Köln künftig auch für Großveranstaltungen, bei denen es keinen Veranstalter gebe, Sicherheitskonzepte erstellen werde.
Innenminister Jäger will dafür sorgen, dass Frauen sich im Karneval sicher fühlen könnten. Es werde deutlich mehr Polizei und mehr Video-Überwachung geben.
Hat es vergleichbare Fälle in Deutschland schon mal gegeben?
Der nun in den Ruhestand versetzte Kölner Polizeipräsident Albers sprach von "Straftaten einer völlig neuen Dimension". Diese These unterstützte auch die Kriminologin Rita Steffes-enn vom Zentrum für Kriminologie und Polizeiforschung. "Dass wir so große Tätergruppen im öffentlichen Raum haben, das hat es meines Wissens hierzulande bislang nicht gegeben", sagte sie im Gespräch mit tagesschau.de.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Taten in Köln und Hamburg?
Auch in anderen Städten kam es in der Silvesternacht zu Vorfällen. Die Zahl der Anzeigen nach den Attacken auf Frauen in Hamburg steigt weiter. Inzwischen habe die Polizei 153 Anzeigen gezählt, sagte ein Polizeisprecher. Um wie viele Opfer es sich handle, sei noch unklar, da in einigen Fällen mehrere Frauen zugleich angegriffen, begrapscht oder bestohlen wurden.
Es ist unklar, ob es zwischen den Taten in Köln und in anderen Städten zum Jahreswechsel einen Zusammenhang gibt. Unter anderem in Düsseldorf und Hamburg häufen sich die Anzeigen von Frauen, die sexuell belästigt und ausgeraubt worden seien. Bundesjustizminister Maas schloss in einem Interview einen Zusammenhang zwischen den Attacken auf Frauen nicht aus. NRW-Landeskriminaldirektor Dieter Schürmann sieht jedoch keine Anhaltspunkte für überörtliche Zusammenhänge der Gewalttaten.